Lyrik-Provokation

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Lyrik als Provokation

 

Freudenstädter Lyriktage
Vortrag am 16. September 2000, 16.00 Uhr

Das Thema "Lyrik als Provokation" ist ein überaus sperriges, denn üblicherweise dürfte sowohl die Produktion wie auch Rezeption von Lyrik nicht - zumindest nicht vordergründig - mit einem Akt der Provokation gleich gesetzt werden. Jedoch gerade mit Blick auf den Vortrag des gestrigen Nachmittags bekommt das von mir auszulotende Thema seine Spannkraft, sein scharf umrissenes Ziel. Marianne Kawohl handelte über "Lyrik als Meditation" und hat hierbei das eine Extrem, den einen wichtigen Wirkort von Lyrik beschrieben. Wenn ich im Folgenden über "Lyrik als Provokation" einige historische und programmatische Anmerkungen mache, so darf nie außer Acht gelassen werden, dass es sich auch hierbei nur um ein anderes, selteneres Extrem in der Welt der Lyrik handelt. Dieser Welt, die Sprache in all ihren rhythmischen, melodischen und inhaltlichen Valenzen in je individuelle Formen bannt - ihre Nähe zur Schwester Musik nie leugnend, die ihr mit der Lyra Symbol und Namen gab.

Lassen Sie mich zunächst - in zugegebenermaßen sehr freier Aneignung einiger Aspekte der historischen Abfolge der Künste in Hegels Ästhetik - den Stufengang der Poesie im Allgemeinen und der Lyrik im Besonderen in den Blick nehmen; wobei ich mich ganz auf die abendländische und, nach ihrem Auftreten, auf die deutschsprachige Lyrik beschränken werden. Zwei Anmerkungen für den literaturwissenschaftlich Geschulten zuvor: Die von der Literaturwissenschaft aus systeminternen Gründen gemachten Einschränkungen des Begriffs ‘Lyrik’ z.B. bei den Griechen nur auf das zur Leier gesungene Lied, werde ich - so sinnvoll sie im Einzelnen sein mögen - hier nicht nachvollziehen. Ich werde den Begriff mit all seinen Unschärfen so verwenden, wie er sich seit dem 18. Jahrhundert als zur Epik und Dramatik abgegrenzter Gattungsbegriff herauskristallisiert hat. Ebenfalls werde ich nicht auf Abgrenzungen zu erzählenden oder dramatischen Formen in gebundener Sprache eingehen, denn die Gattungsgrenzen sind unscharf, fließend; doch dies ist nicht mein Thema.

Zunächst zum Stufengang der Lyrik-Entwicklung in historischer Schau, zur Entstehung lyrischen Sprechens:

Der Mensch wird frühzeitig im Sprechen - alleine schon aus Gründen der Mnemotechnik in einer vorschriftlichen Kultur - auf rhythmische und lautliche Aspekte gestoßen sein, die den Fluss der Sprache in überschaubare, zusammengehörige Portionen gliedert. Sprache operiert so von Anbeginn an mit poetischen Mitteln, die ja schon ihre Entstehung begleiten, wenn ich nur an den vermutlich onomatopoetischen, d.h. lautmalenden und -nachahmenden Urgrund der Worte erinnere.

Ab einer gewissen Stufe der Kultur, wenn sich die Vorstellung vom Jenseitigen aus dem bloß Numinosen emanzipiert, und die Idee eines Gottes bzw. der Welt der Götter aufscheint, wird die vor-lyrische Phase der gnomischen Formen überlagert vom anbetenden Gesang für die Gottheit, dem bildnerisch gestalteten ekstatischen Hymnus oder dem stilleren meditativen Gebet. Der Gott wird lyrisch besungen, erhöht und angebetet. Und hier hat die Lyrik in der Ableitung vom den Gesang begleitenden Instrument "Lyra" ihren musikalischen Ursprung, einen Ursprung, den sie gerade in modernen Formen gerne leugnet, nicht mehr wahrhaben will; wiewohl er doch stets, selbst noch in der provokativen Abwehr als Negativum, durchscheint. Das ursprünglich im hymnischen Gesang aufscheinende, verehrende Moment des Anbetens wird schnell ergänzt durch Bitte und Forderung. Der Gott wird aufgefordert, in Notzeiten für die Seinen einzustehen, zu helfen, die Seinen nicht im Stich zu lassen. Schicksalsschläge werden zunächst gottergeben hingenommen, und kaum einer murrt. Doch der Mensch emanzipiert sich aus der Dumpfheit, der Hingabe, und er hadert mit seinem Gott, seinen Göttern, die ihn ungerechtfertigter weise nicht zum Zuge kommen lassen, seinen Nachbarn bevorzugen, ihn selbst stets hintan stehen lassen. Er begehrt auf und fasst auch seine Auflehnung, seinen Widerspruch in die altgewohnten Rhythmen, Klänge und Bilder. Er tritt seinem Gott ironisch, sarkastisch, zynisch, polemisch und auch derb gegenüber, klagt ihn an, schmäht ihn, gibt ihn der Lächerlichkeit preis. Mit Blick auf die griechische Mythologie kann dieser Akt als das Prometheus-Prinzip bezeichnet werden, das dem orphischen Gesang eine polemische, ja provokative Wendung gibt. Bis der Mensch hier hin gelangt, muss er jedoch die weite Strecke der Entwicklung eines Selbst-Bewusstseins hinter sich bringen; er muss sein Eingebundensein in das Natürlich-Kreatürliche überwinden und sich als Individuum begreifen lernen, das dem Anderen, Fremden selbstbewusst begegnen kann.

Dies war ein zugegebenermaßen sehr schneller Sprung über einen langen Zeitlauf vorliterarischer, spekulativ zu gewinnender, und literarischer Entwicklungen der Lyrik als ursprüngliche Sag- und Sangweise in einer vor allem durch mündliche Tradierungen ausgezeichneten Gesellschaft. In fast allen Kulturkreisen lässt sich diese Herkunft der Lyrik aus dem Mythos nachzeichnen, beispielsweise in der orientalischen, chinesischen, indischen, polynesischen etc. Die Geburt der Lyrik aus dem Geist der Musik geht im Übrigen in der späteren Entwicklung nie ganz verloren, bis in unsere Tage bestehen enge Beziehungen zwischen dem lyrischen Gestus und dem Gestus der Musik. Wir können den skizzierten Gang lyrischen Ursprungs im europäischen Kulturkreis exemplarisch in der griechischen Literatur nachvollziehen; hierauf kann ich jedoch im Rahmen des mir gestellten Themas nur verweisen.

In der Auflehnung gegen die Gottheit liegt die Keimzelle der Provokation im Lyrischen. Anbetung und der Wunsch nach mystischer Vereinigung auf der einen, und Auflehnung, gar destruktive Ablehnung auf der anderen Seite, sind die beiden Extrempositionen lyrischer Ansprache der Gottheit. Doch was im ersten Moment des Auftretens noch ganz im Bezirk des Mythos oder einfacher, des Religiösen angesiedelt ist, kann als Auflehnung gegen Obrigkeit, gegen Normen und Werte, gegen gesellschaftliche Zustände etc. säkular gewendet in alle Bereiche menschlichen Daseins eindringen. Die Provokation, der Gegengesang, der Widerruf, der Vorhandenes und scheinbar Unverrückbares negiert, ad absurdum führt, kritisiert, der Lächerlichkeit preis gibt, steht dann auf der extremen anderen Seite der lyrischen Äußerung.

Ein Weiteres ist in den Blick zu nehmen, wenn wir uns mit dem Phänomen der Provokation beschäftigen, vollends in dem kleinen Teilbereich der Lyrik, die als provokativer Akt verstanden werden soll. Es ist stets zu analysieren, auf welcher Seite die Provokation stattfindet. Ist schon der Produktionsprozess als provokativer Akt geplant? Findet die Präsentation des lyrischen Produktes auf provozierende Art statt? Trifft die gewünschte Provokation überhaupt den Rezipienten, d.h. wird sie von diesem überhaupt als Provokation, als Angriff oder Gegengesang wahrgenommen..? Dies ist die eine Seite der Medaille, die des Produzenten, wobei im letzten Fall der Rezipient schon mit in den Blick genommen wurde, hier jedoch mit dem großen Fragezeichen des Provokations-Erfolges, der v.a. bei länger zurückliegenden lyrischen Provokationsakten zudem nur noch historisch vermittelt, in der Analyse aufgedeckt werden kann. Andererseits können gar nicht mit dem Impetus der Provokation erzeugte Gedichte, Texte, Collagen etc. auf einen bestimmten Rezipientenkreis provozierend wirken, weil sie Inhalte ansprechen, sich Formen bedienen, Strukturen zeigen oder eine Vortrags- bzw. Präsentationsart, die gegen vorhandene Muster, Tabus etc. verstößt; so dass dieser Verstoß unwillkürlich als Provokation wahrgenommen werden muss.

Ich kann im Folgenden diesem gesamten Bündel an Fragestellungen nicht im Einzelnen nachgehen. Es wird jedoch immer im Hintergrund meiner folgenden Gedanken wie ein Cantus firmus mitschwingen und mit zu bedenken sein.

Und ich kann es Ihnen nicht ersparen, vor meinen knappen historisch-inhaltlichen Überlegungen zur "Lyrik als Provokation" noch eine für den Gesamtzusammenhang und das Verständnis der Wirkweise von Provokation wichtige Einordnung vorzunehmen. Die Provokation als Gegengesang, Widerruf, ja Angriff kann in der Wirkung auf etwas reagieren oder zur Reaktion herausfordern. Es ist also stets zu bedenken, ob der Autor lyrischer Provokation selbst auf eine Person, Institution, Handlung, auf gesellschaftliche Zustände, politische Verhältnisse etc. mit einer Provokation reagiert, will meinen sich zum Gegengesang herausgefordert fühlt, oder ob er das angesprochene Du, den Gegenüber, die Gesellschaft etc. durch sein Gedicht, seinen Text provozieren, zum Widerstand, gar zur Aggression herausfordern möchte. Und auch diese beiden Seiten sind in den meisten Fällen nicht voneinander zu trennen, sondern laufen simultan-dialektisch ab. Gegenrede erzeugt Widerstand, erzeugt Gegenrede, erzeugt Aggression, erzeugt Gegenrede, erzeugt Wut, erzeugt Gegenrede, erzeugt Provokation, erzeugt Provokation, erzeugt Provokation und so fort...

Und hier ist nun nóch einmal zwischen dem Autoren-Ich und dem sich im Gedicht aussprechenden lyrischen Ich zu unterscheiden, wie auf der anderen Seite der vom Autor intendierte, ja eventuell direkt angesprochene Rezipient, vom allgemeinen Leser/Hörer, gar noch dem "nur noch" historisch vermittelt rezipierenden, unterschieden werden muss. Hier ist allerdings, wie zuvor, wiederum die Unschärfe der Abgrenzungsmöglichkeit zu unterstreichen. Denn sowohl auf Seiten des sich aussprechenden Ich, und noch mehr in Bezug auf die Rezipienten und die Rezeptionssituation verwischen sich eindeutige Grenzen.

Nun sind die knapp skizzierten Überlegungen zur Wirkweise, zum Ort, zur Produktion mit Autor- und lyrischem Ich und zur Rezeption noch einmal jeweils miteinander zu Verknüpfen. Und schnell wird klar, dass es sich hier um ein kaum entwirrbares Bezugsgeflecht handelt, in welchem jeweils andere Prioritäten herrschen. Mir ist wichtig, im Folgenden diesem Bezugsgeflecht Aufmerksamkeit zu zollen, ohne es explizit erwähnen zu müssen.

Lassen Sie uns nun einige historische Orte der Lyrik als Provokation aufsuchen. Die knappe Auswahl kann in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur ein Nippen am gefüllten Fass sein, wobei die Auswahl der Sorten bewusst gewählt ist. Springen wir also nach Vorklärung der Regularien, Einschränkungen und Bedingungen unter welchen Lyrik als Provokation statt hat, gemeinsam hinein ins pralle Thema.

Die Provokation in lyrischem Gewand kann sich in den unterschiedlichsten Ausprägungen zeigen. Sie ist jedoch stets - und das muss nachdrücklich unterstrichen werden - immer als Gegenposition, als Widerruf gegen vorhandenen lyrische Formen zu verstehen; sie ist somit immer ein sekundäres Phänomen, das den positiven, bejahenden Vor-Wurf braucht, um satyrisch, zynisch oder ironisch verfremdend nach- oder zurückwerfen zu können.

Die unterschiedlichen Ausprägungen von Lyrik als Akt der Provokation können sich auf formale Aspekte, rhythmische Gestalt, metrische Feinheiten, inhaltliche Fragestellungen etc. beziehen; sie können sehr fein und hintersinnig oder eher grobschlächtig, mit der Brechstange einherkommen; sie können sich auf Überzeitliches beziehen oder zeitkritisch einzelne Phänomene in Politik, Kunst, Gesellschaft etc. aufs Korn nehmen. Alles ist vor der Folie von Vorhandenem fähig, zum Gegengesang herauszufordern.

Lassen Sie mich einige herausragende Bereiche lyrischer Provokation umreißen bis zum Feld der politischen Lyrik - einem Hauptbereich, der zumeist mit dem Impetus der Provokation daherkommt -, jeweils in wichtigen und markanten Stationen der jeweiligen historischen Abfolge.

Ich werde hier nicht eingehen auf den Bereich der erotischen Literatur, in welchem sich in provokativer Absicht geschriebene Gedichte mit solchen mischen, die durch Tabu-Brüche für breite Gesellschaftsschichten als provokativ gelten müssen. Dieser große Bereich wäre einer besonderen Betrachtung wert, soll jedoch hier einerseits wegen der Problematik psychologischer und gesellschaftspolitischer Einordnung, andererseits um Sie, meine Damen und Herren nicht durch Schweinereien zu provozieren, ausgeklammert werden

Lassen Sie mich zunächst den Bereich der Kontrafaktur beleuchten, der sich besonders für Akte der Provokation eignet, wobei die lyrische Kontrafaktur häufig Melodie-gebunden ist, aber auch als reine Text-Kontrafaktur auftreten kann. Hier muss ich wohl zum besseren Verständnis einen kurzen Exkurs zur Kontrafaktur einfügen, denn nicht jedem wird dieser sowohl in der Musik- wie auch in der Literaturwissenschaft gebräuchliche Begriff präsent sein. Unter Kontrafaktur - aus dem lat. "contra = gegen" und "facere = machen" gebildet - verstehen wir einen Text, der auf eine vorhandene Melodie und mithin eben auch auf eine vorhandene Strophenform gedichtet wird. Als deutsche Umschreibung des Fachterminus ließe sich eventuell Gegenschöpfung oder Nachbildung verwenden. Diese Form ist seit dem Mittelalter gebräuchlich, wo mittelhochdeutsche Texte in Melodiegemeinschaft mit mittellateinischen, französischen und provencalischen Liedern auftauchen, wobei die deutschen Texte zumeist nachgeordnet, mithin Kontrafakturen sind. In der katholischen Mystik des 15. Jahrhunderts und vor allem der geistlichen Dichtung - überwiegend des Protestantismus - im 16. und 17. Jahrhundert ist eine weitere Blütezeit. Im gesanglichen Vollzug des Gedichtes wird sich natürlich beim Zuhörer unmittelbar der Gedanke an die Vorlage einstellen, auf die der neue Text gedichtet wurde. In den meisten Fällen, so bei unzähligen Kirchenliedern, die nach weltlichen Liedern und Tanzmelodien oder auch auf die Melodien anderer geistlicher Lieder - manches Mal der anderen christlichen Konfession - gebildet sind, ist natürlich kein Moment der Provokation vorhanden - wenn dies auch im Fall des Konfessionstausches sogar im einen oder anderen Fall durchscheint. Die Kontrafaktur ist natürlich auch für den großen Bereich der Gelegenheitsdichtung eine überaus beliebte Form, um bei Jubiläen und Feiern witzige, manchmal persiflierende, aber auch besinnliche Akzente zu setzen.

Doch schon beim ersten Auftreten von Kontrafakturen im Mittelalter ist Polemik und Provokation im Spiel. In der berühmt gewordenen Fehde über die rechte Art und Weise, die Minne zu einer geliebten Frau zu besingen, die Walther von der Vogelweide wohl zu Beginn des 13. Jahrhunderts mit Reinmar dem Alten ausfocht, gibt es ein Lied Walthers, das mit der Anweisung "In dem done: ich wirb umb allez daz ein man" überschrieben ist. Dieses polemisiert in der Strophenform und damit wohl auch auf die uns heute unbekannte Melodie eines Minne-Liedes von Reinmar, mit direkten Zitaten und Anspielungen auf dessen Text, gegen Reinmars Minne-Auffassung.

Einen besonderen Bereich, auf den ich nur hinweisen möchte, bilden die vielfältigen Kontrafakturen zu Nationalhymnen, die natürlich zumeist in persiflierend-provokativer Absicht produziert werden. Durch die deutschen Gerichte zieht sich eine Spur von Urteilen, in welchen das Problem der Verunglimpfung staatlicher Symbole gegen die Freiheit der Kunst auf Justitias Waage gelegt wurde. Dies verweist zum einen in den direkt folgenden Abschnitt, da diese Texte häufig parodistische Elemente aufweisen, andererseits gehören sie als Sonderform dem weiter unten zu behandelnden Bereich der politischen Lyrik-Provokationen an.

Eng verwandt mit der Kontrafaktur ist die Parodie, die allerdings nicht auf das Lyrische beschränkt bleibt, sondern sich seit griechischer Zeit - ich erinnere an Komödien des Aristophanes als Parodien auf Tragödien des Euripides - stark in der Dramatik und später vor allem im Epos austobt. Zumeist weniger eng als die Kontrafaktur übernimmt die Parodie kennzeichnende Formmittel oder Inhaltsbereiche, die in kritischer, polemischer oder satirischer Absicht, aber mit gegenteiliger Intention nachgeahmt werden, um damit beim Hörer bzw. Adressaten das Ausgangswerk in tatsächlich vorhandenen oder vermeintlich anzugreifenden Schwachpunkten zu entlarven. Die Parodie wendet sich provozierend gegen alle Formen des Heroischen und des konventionell Sentimentalen, damit die oben skizzierte Auflehnung gegen die hymnische Verehrung des Göttlichen säkular fortsetzend. Und auch in der Lyrik - hier vor allem das konventionell Sentimentale aufs Korn nehmend - findet die Parodie wiederum seit der Antike, und im deutschen Sprachraum seit dem Mittelalter ein reiches Betätigungsfeld. Hier sind in mittelhochdeutscher Zeit vor allem Neidhart und Steinmar zu nennen, die derb-erotisch den höfischen Minnesang in eine dörfliche Umgebung versetzen und mit die Schamgrenzen bei weitem übersteigenden erotischen Liedern, die gespickt sind mit sexuellen Anspielungen und Metaphern, parodistisch gegen den hohen Minnesang polemisieren und so die arrivierten Sänger provozieren und ihrerseits zu scharfem Widerspruch herausfordern. Ich darf in diesem Zusammenhang nur an die Klage des alten Walther von der Vogelweide über das dörperliche Singen erinnern, das Inhalt und Form des wahren Liebesgesangs destruire. In allen Zeitläuften, vor allem im späten 18. und 19. Jahrhundert und den sentimentalischen, empfindsamen und bisweilen ins Triviale abgleitenden Lyrikprodukten, findet die lyrische Parodie in provozierender Absicht ein beliebtes Betätigungsfeld. In neuerer Zeit möchte ich unter den vielen sich oft in der Kleinkunst-Szene tummelnden Parodisten einen der großen Hervorheben: Peter Rühmkorf, den wir denn auch bei den Provokateuren der politischen Lyrik wiederfinden.

Ein zweiter Bereich lyrischer Produktivität, in welchem Provokation, Aufrütteln, Widerspruch seinen Platz hat, sind tradierte und verfestigte, letzthin nicht mehr hinterfragte ästhetische Strukturen, Formen, Konstanten. Das Gedicht ist ein kürzeres, sprachlich verdichtetes, in Versen geschriebenes Sprachkunstwerk, zumindest dem Anspruch nach. Diesen Satz dürfte heute nicht mehr ein jeder ohne Einschränkungen unterstreichen. Denn selbst diese Aussage, bis ins 19. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit - wobei in der Diskussion dessen, was als Vers zu verstehen sei, keineswegs Einigkeit herrschte -, gilt heute, nach Prosagedichten, DaDa und konkreter Poesie, nicht mehr.

Auch diese Auflösungstendenzen haben eine längere Geschichte, denn wo in ästhetischen Hervorbringungen Formen fest, scheinbar unverrückbar werden, kommt bald der Wunsch nach Überstieg der scheinbar naturgegebenen Grenzen auf. Schon im Barockzeitalter finden sich Auflösungen der äußeren Form, indem die Texte in emblematische Figuren (Kreuz, Herz etc.) einfließen. Dies geschieht jedoch einerseits ohne die Textstruktur zu verändern, das heißt ein in Versen geschriebenes Gedicht bleibt in seiner inneren Form unverändert; und dies geschieht andererseits nicht in Distanz schaffender Absicht, sondern im Gegenteil, um die durch den Text gegebene Aussage noch durch die emblematische Form zu unterstreichen, schon beim ersten Anblick des Textes einem bestimmten Inhaltsbereich zuzuordnen.

Ähnlich sind Auflösungstendenzen, wenn in zum Teil ironischer Weise lautmalende Elemente in die Lyrik Aufnahme finden, die weit über die onomatopoetischen Grundlagen der Wörter hinausreichen. Auch dies hat seinen Ursprung in unserem Kulturkreis im Mittelalter. So sind bei Walther von der Vogelweide und Neidhart Refrains mit lautmalenden Elementen vorhanden - "tandaradei", "traranurunturundei". Und bei den Autoren des späten Mittelalters weitet sich dies aus und wird zu einem, wenn auch extensiv gebrauchten Mittel der Lyrik.

Beide Möglichkeiten werden nun im ausgehenden 19. Jahrhundert, aber vor allem im DaDa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der konkreten Poesie in der zweiten Hälfte experimentell und in zuweilen provokativer Absicht wieder in die Lyrik eingeführt. Von Morgensterns "Fisches Nachtgesang" bis hin zu Reinhard Döhls "Apfelgedicht" gehen hierbei die emblematischen Experimente. Wo Morgenstern oder Ringelnatz noch ohne expressis verbis negativ künstlerischem Programm dem ironisch Gebrochenen oder Witzig-Skurrilen im Material der Sprache nachspüren, wird die Provokation im Dadaismus zum Programm. Die ab 1916 als Anti-Bewegung gegen Tendenzen der Zeit des ersten Weltkrieges in Zürich entstandene Kunst- und Literaturrichtung, die mit einem revolutionären Impetus eine Synthese aus expressionistischen, futuristischen und kubistischen Kunsttendenzen anstrebte, hatte ihren ästhetischen Ausgangspunkt im Züricher "Cabaret Voltaire" und ist ursprünglich eine literarische Revolutionsbewegung gegen "den Wahnsinn der Zeit", wie sich einer ihrer Protagonisten, Hans Arp, ausdrückte. Der künstlerische Wiederstand der Dadaisten im "Cabaret Voltaire" richtete sich gegen das aus dem 19. Jahrhundert zehrende Bildungsbürgertum, dem beispielsweise Hugo Ball vorwarf, für "die grandiosen Schlachtfelder und kannibalischen Heldentaten" verantwortlich zu sein. Man provoziert nicht aus der Lust am Wiederspruch, sondern aus einem Ekel gegenüber den - auch ästhetischen - Wertmaßstäben der Zeit, die für überholt, ja schlichtweg für ungültig erklärt werden. Dies gipfelt in der Proklamation der absoluten Freiheit der Kunst, bzw. der ästhetisch-künstlerischen Produktion. Ihre programmatischen Provokationen gegen das Kunst-Establishment fanden ihren Niederschlag vor allem in der Zeitschrift "Dada", die ab 1917 von Tzara herausgegeben wurde. Im künstlerischen und enger lyrischen Bereich führten sie zu provozierenden und die an Stefan George und Reiner Maria Rilke gebundene Lyrikgemeinde zutiefst verunsichernden Collagen, reduzierten Texten, Lautgedichten, Zufallstexten, den Ball’schen "Versen ohne Worte" und im Extrem zu den sogenannten "Geräuschkonzerten".

Hier hat die Provokation gegen in die Weltkriegs-Katastrophe führende gesellschaftliche Zustände in der Lyrik tiefe Spuren hinterlassen; Spuren, die keine Lyrikerin, kein Lyriker, der in heutiger Zeit schreibt, ohne Beachtung lassen darf, da nur die reflexive Durchdringung der Vergangenheit in ihren langen Kontinuitäten und vielfältigen Brüchen künstlerisches Potential auf der Höhe der Zeit zur Entfaltung bringt. Allerdings hat es der DaDa nie geschafft, eine einheitliche eigene Kunstgestaltung, einen eigenen Gruppenstil zu entwickeln, denn nach dem ersten Weltkrieg und dem Ende des Zürcher Exils der Mitglieder zerfiel die Bewegung in mehrere letztlich nicht mehr vereinbare Stränge. So kam der DaDa über die Anti-Kunst, die pure Negation und Provokation nie hinaus; wiewohl er uns hierin wunderbare Kunstwerke hinterlassen hat.

Die Spuren der lyrischen, dadaistischen Provokation gehen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Die Unterbrechung durch die grauenvolle Zeit des Nationalsozialismus und der von deutschem Boden ausgehenden Völkervernichtung, in der auch Provozierendes durch die Reichsschrifttumshauptkammer in der Literatur gefördert wurde, lasse ich hier schnell wieder aus dem Blickfeld gleiten; staatlich geförderte Provokation wider den gesunden Menschenverstand und wider die Menschlichkeit soll hier nicht zum Thema gemacht werden. Deutsche Lyrik fand in dieser Zeit der Drangsal in innerer und äußerer Emigration statt, verlor aber ihre zuvor erreichte Leichtigkeit und Unbekümmertheit. Und der aus der Verzweiflung um den stattgehabten Irrsinn entstandene, berühmte Satz, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich, hat eine sehr tiefe Wirkung auf die Lyriker der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgeübt. Hier finden wir denn die Spuren des DaDa wieder, denn zuerst musste die Sprache, das Wort - jenseits der zur Barbarei verkommenen Inhalte - wieder gewonnen werden. So entsteht der Umgang mit Wort und Sprache als Materialität neu in der ab ca. 1950 auftretenden konkreten Poesie, die sich bewusst auf den italienischen Futurismus und die DaDa-Traditionen Hugo Balls und Kurt Schwitters’ beziehen. In den zwei Spielarten der visuellen und akustischen Dichtung - für die auf der einen Seite Gomringer und Döhl, auf der anderen Ernst Jandl exemplarisch genannt seien - findet sich mit Blick auf die Lyrik-Tradition viel Provozierendes, wiewohl die Texte, Collagen, Konstellationen zumeist nicht mit dem Impetus der Provokation produziert sind.

Einen weiteren Bezirk lyrischer Produktion, in welchem expressis verbis Provokation eine große Rolle spielt, sind Angriffe auf Personen oder Institutionen, seien sie öffentlich publiziert oder für einen esoterischen Kreis bestimmt. Die Grenze zur politischen Lyrik, auf die ich gleich hernach zu sprechen kommen werde, ist hier fließend. Auch hierbei gibt es antike Vorläufer, auf die ich nicht eingehe; ich möchte nur einige wenige Hinweise geben auf den persönlich-provozierenden Bereich, der aber natürlich stets auf Personen zielt, die im öffentlichen Leben eine wie auch immer herausragende Rolle spielen. Auch dieser Bereich hat eine Tradition, die vom Mittelalter bis in unsere Tage reicht. Das beginnt wiederum bei Walther von der Vogelweide, der im sog. Atze-Ton einen Herrn Gerhard Atze polemisch angreift, der ihm zu Eisenach sein Pferd erschossen habe. Selbst vor politischen Größen seiner Zeit schreckt Walther nicht zurück. So wird König Otto in einem Spruch scharf angegangen, weil dieser nicht zu seinem Wort gestanden habe. Solche provokativen Verbalinjurien gegen Personen finden sich in der Reformations- und Gegenreformationslyrik genauso wie in der Klassik oder in Lyrikepochen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist uns von Goethe überliefert, der ja im übrigen auch im Bereich der zu allen Zeiten als Provokation verstandenen anzüglich erotischen Literatur einiges zu bieten hat, ich mag hier nur an die unzensierte Handschrift vorletzter Hand der "Venetianischen Epigramme" aus dem Jahr 1790 erinnern oder Teile der ursprünglichen Fassung der "Römischen Elegien" von 1788. Bei diesem klassischen Beispiel privater gegenseitiger Provokation lassen Sie mich einen Moment verweilen. Der ins Fäkalische abgleitende lyrische Text "Freuden des iungen Werthers", der auch bekannt geworden ist unter dem Titel "Nicolai auf Werthers Grabe", zielt mit brutaler Provokation auf Friedrich Nicolai, der 1775 eine Parodie auf "Werthers Leiden" veröffentlicht hatte. Goethe muss sich durch diese Parodie provoziert gefühlt haben, er reagierte überaus gereizt, gekränkt. In Dichtung und Wahrheit heißt es: "Dann verfasste ich, zur stillen und unverfänglichen Rache, ein kleines Spottgedicht, ‚Nicolai auf Werthers Grabe’, welches sich jedoch nicht mitteilen lässt." Der Text ist zu Lebzeiten Goethes nicht veröffentlicht worden, aber so "still und unverfänglich", wie Goethe es darstellt, war die provokative Rache denn auch nicht; diverse Abschriften kursierten unter seinen Freunden. Hier haben wir die eingangs angedeutete Gemengelage unterschiedlichster Provokationsschichten deutlich vor Augen. Nicolai provoziert Goethe mit seiner veröffentlichten Parodie in gezielter Absicht. Goethe reagiert, indem er seine Freunde, die zum Teil auch mit Nicolai bekannt waren, mit dem Spottgedicht versorgte. Dass dieser Text Nicolai gänzlich unbekannt geblieben ist, darf bezweifelt werden. Trotzdem ist erst ex post, aus dem Nachlass heraus, diese Provokationskette, die sich nur zum Teil öffentlich, ansonsten privat abspielte, zu rekonstruieren. Wir wollen es bei diesem Beispiel persönlicher Provokation bewenden lassen.

Schon im Zusammenhang mit Walthers von der Vogelweide Otten-Ton, der sowohl persönlich, als auch zutiefst politisch – als in den staufisch-welfischen Konflikt eingreifend - gedeutet werden kann, habe wir den wichtigsten Bereich öffentlich ausgetragener lyrischer Provokation gestreift. Die politische Lyrik, die wohl die meisten und weitest verbreiteten provozierenden Texte hervorgebracht hat. Und wenn der Studiosus Brander in Auerbachs Keller (Faust I, Verse 2092-2096) das politische Lied als ein "garstig Lied" bezeichnet, so ist gerade dieser angreifende, polemische und provokative Zug gemeint, der die politische Lyrik zum Instrument der Agitation werden lässt.

Schon eingangs habe ich in meinem anthropologischen Anlauf beschrieben, wie die Lyrik gleich der Religion über Jahrhunderte der Legitimation von Herrschaft und im besonderen von Herrschaftsinteressen diente. Schnell kommt jedoch auch die gegenteilige, kritische Haltung auf, Veränderung bestehender politischer Herrschafts- und Gesellschaftsformen wird angemahnt, und dies hat wenn nicht explizit so doch implizit immer auch eine provokative Seite. Im deutschen Mittelalter waren Hauptthemen der politischen Lyrik, das heißt v.a. der Spruchdichtung, Reich, Kirche, Herrscher, die Städte und die Bürger, sowie in Ansätzen soziale Probleme, wie das Aufeinanderprallen ständischer Gliederungen, z.B. Bauernstand vs. Rittertum. In der politischen Dichtung Walthers von der Vogelweide standen v.a. die Auseinandersetzungen zwischen Imperium und Sacerdotium, sprich Kaiser und Papst, sowie Welfen und Staufern, oder die Kreuzzüge als die wichtigsten Themen der Zeitgeschichte im Vordergrund, die in häufig polemisch-angriffslustigem Ton vorgetragen wurden. Das 14. Jh. stellt die Territorialkämpfe in den Mittelpunkt politischer Lyrik, und im 15. Jh. werden entscheidende historische Ereignisse wie beispielsweise das Konstanzer Konzil oder die Hussiten- und Türkenkriege in oft parteiisch-provokativ vorgetragener Lyrik angesprochen. Nach Peter Seibert bedeutet in der Reformations- und Gegenreformationszeit "Politisierung der Literatur [...] hier wie im Barock in der Regel Konfessionalisierung der Literatur", d.h. politische und religiöse Dichtung nähern sich an, verschmelzen gar miteinander; wobei gerade hier, wie schon oben im Umfeld der Kontrafaktur angemerkt, die Polemik und konfessionelle Provokation scharfe Töne anschlägt. Affirmative wie herrschaftskritische Lyrik des Barock wie der Reformationszeit greifen häufig – wohl zu Erhöhung der Popularität auf volkstümliche Formen und Traditionen zurück.

Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Politik und Dichtung und hier im engeren Sinn politischer Lyrik hält über alle Epochen hin bis heute an. Hans Magnus Enzensberger postuliert in seinem Essay "Poesie und Politik" 1962 das "Recht der Erstgeburt" der Poesie gegenüber dem sonstigen Primat der Politik, aber schon 1968 fordert er in "Gemeinplatz, die Neueste Literatur betreffend" die Abdankung der Poesie und stellt den politischen Gebrauchswert eines Textes über den ästhetischen Darstellungswert. Der nächste Nach-68er-Umschwung folgt schon Anfang der 70er Jahre; die ästhetische Distanz dominiert wieder gegenüber den eigenen politischen Erfahrungen.

Politische Dichtung und insbesondere politische Lyrik steht immer neu vor der Aufgabe, die adäquate ästhetische Form dem politischen Inhalt, sei er affirmativer oder kritischer Art, anzupassen. Vor allem politische Provokation, die den Rang des lyrischen Kunstwerks anstrebt, steht vor diesem Problem.

Robert Prutz beschreibt um die Mitte des 19. Jahrhunderts - nach den Erfahrungen des Vormärz und der 48er-Zeit - die provokative Wirkung politische Lyrik, "die vornehme Geringschätzung des politischen Gedichts als eines Wechselbalgs, eines unehrlich geborenen Kindes, bei dessen Anblick züchtigen Leuten unwohl wird", und resümiert, dass "politische Poesie bei uns meist für ein Ding gilt, welches entweder als unmöglich, nicht existirt, oder als unberechtigt, doch nicht existiren sollte".

Ich komme, meine Damen und Herren, zum Schluss, und fasse kurz einige wichtige Grundzüge des Themas zusammen. "Lyrik als Provokation" ist im Gang der Ausfaltung einer lyrischen Tradition ein sekundäres, wenn nicht tertiäres Phänomen, das eine kritische Einstellung zur Umwelt und zur ästhetisch-literarischen wie politisch-sozialen Tradition voraussetzt. Der eigentliche Akt der Provokation kann in den Rezeptionsbedingen, in der äußeren Form, in inhaltlichen Anspielungen und Angriffen, in Tabubrüchen etc. liegen. Alle Bereiche lyrischer Produktion, können in provokativer Absicht oder mit provokativer Wirkung gestaltet sein.

 

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
Kontakt: mailto:siegfriedcarl@hotmail.com
letzte Änderung: 17.09.00

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