Lyrik als Provokation
Freudenstädter Lyriktage
Vortrag am 16. September 2000, 16.00 Uhr
Das Thema "Lyrik als
Provokation" ist ein überaus sperriges, denn üblicherweise dürfte
sowohl die Produktion wie auch Rezeption von Lyrik nicht - zumindest nicht
vordergründig - mit einem Akt der Provokation gleich gesetzt werden. Jedoch
gerade mit Blick auf den Vortrag des gestrigen Nachmittags bekommt das von mir
auszulotende Thema seine Spannkraft, sein scharf umrissenes Ziel. Marianne
Kawohl handelte über "Lyrik als Meditation" und hat hierbei das eine
Extrem, den einen wichtigen Wirkort von Lyrik beschrieben. Wenn ich im Folgenden
über "Lyrik als Provokation" einige historische und programmatische
Anmerkungen mache, so darf nie außer Acht gelassen werden, dass es sich auch
hierbei nur um ein anderes, selteneres Extrem in der Welt der Lyrik handelt.
Dieser Welt, die Sprache in all ihren rhythmischen, melodischen und inhaltlichen
Valenzen in je individuelle Formen bannt - ihre Nähe zur Schwester Musik nie
leugnend, die ihr mit der Lyra Symbol und Namen gab.
Lassen Sie mich zunächst - in
zugegebenermaßen sehr freier Aneignung einiger Aspekte der historischen Abfolge
der Künste in Hegels Ästhetik - den Stufengang der Poesie im Allgemeinen und
der Lyrik im Besonderen in den Blick nehmen; wobei ich mich ganz auf die
abendländische und, nach ihrem Auftreten, auf die deutschsprachige Lyrik
beschränken werden. Zwei Anmerkungen für den literaturwissenschaftlich
Geschulten zuvor: Die von der Literaturwissenschaft aus systeminternen Gründen
gemachten Einschränkungen des Begriffs ‘Lyrik’ z.B. bei den Griechen nur
auf das zur Leier gesungene Lied, werde ich - so sinnvoll sie im Einzelnen sein
mögen - hier nicht nachvollziehen. Ich werde den Begriff mit all seinen
Unschärfen so verwenden, wie er sich seit dem 18. Jahrhundert als zur Epik und
Dramatik abgegrenzter Gattungsbegriff herauskristallisiert hat. Ebenfalls werde
ich nicht auf Abgrenzungen zu erzählenden oder dramatischen Formen in
gebundener Sprache eingehen, denn die Gattungsgrenzen sind unscharf, fließend;
doch dies ist nicht mein Thema.
Zunächst zum Stufengang der
Lyrik-Entwicklung in historischer Schau, zur Entstehung lyrischen Sprechens:
Der Mensch wird frühzeitig im Sprechen -
alleine schon aus Gründen der Mnemotechnik in einer vorschriftlichen Kultur -
auf rhythmische und lautliche Aspekte gestoßen sein, die den Fluss der Sprache
in überschaubare, zusammengehörige Portionen gliedert. Sprache operiert so von
Anbeginn an mit poetischen Mitteln, die ja schon ihre Entstehung begleiten, wenn
ich nur an den vermutlich onomatopoetischen, d.h. lautmalenden und -nachahmenden
Urgrund der Worte erinnere.
Ab einer gewissen Stufe der Kultur, wenn
sich die Vorstellung vom Jenseitigen aus dem bloß Numinosen emanzipiert, und
die Idee eines Gottes bzw. der Welt der Götter aufscheint, wird die
vor-lyrische Phase der gnomischen Formen überlagert vom anbetenden Gesang für
die Gottheit, dem bildnerisch gestalteten ekstatischen Hymnus oder dem stilleren
meditativen Gebet. Der Gott wird lyrisch besungen, erhöht und angebetet. Und
hier hat die Lyrik in der Ableitung vom den Gesang begleitenden Instrument
"Lyra" ihren musikalischen Ursprung, einen Ursprung, den sie gerade in
modernen Formen gerne leugnet, nicht mehr wahrhaben will; wiewohl er doch stets,
selbst noch in der provokativen Abwehr als Negativum, durchscheint. Das
ursprünglich im hymnischen Gesang aufscheinende, verehrende Moment des Anbetens
wird schnell ergänzt durch Bitte und Forderung. Der Gott wird aufgefordert, in
Notzeiten für die Seinen einzustehen, zu helfen, die Seinen nicht im Stich zu
lassen. Schicksalsschläge werden zunächst gottergeben hingenommen, und kaum
einer murrt. Doch der Mensch emanzipiert sich aus der Dumpfheit, der Hingabe,
und er hadert mit seinem Gott, seinen Göttern, die ihn ungerechtfertigter weise
nicht zum Zuge kommen lassen, seinen Nachbarn bevorzugen, ihn selbst stets
hintan stehen lassen. Er begehrt auf und fasst auch seine Auflehnung, seinen
Widerspruch in die altgewohnten Rhythmen, Klänge und Bilder. Er tritt seinem
Gott ironisch, sarkastisch, zynisch, polemisch und auch derb gegenüber, klagt
ihn an, schmäht ihn, gibt ihn der Lächerlichkeit preis. Mit Blick auf die
griechische Mythologie kann dieser Akt als das Prometheus-Prinzip bezeichnet
werden, das dem orphischen Gesang eine polemische, ja provokative Wendung gibt.
Bis der Mensch hier hin gelangt, muss er jedoch die weite Strecke der
Entwicklung eines Selbst-Bewusstseins hinter sich bringen; er muss sein
Eingebundensein in das Natürlich-Kreatürliche überwinden und sich als
Individuum begreifen lernen, das dem Anderen, Fremden selbstbewusst begegnen
kann.
Dies war ein zugegebenermaßen sehr
schneller Sprung über einen langen Zeitlauf vorliterarischer, spekulativ zu
gewinnender, und literarischer Entwicklungen der Lyrik als ursprüngliche Sag-
und Sangweise in einer vor allem durch mündliche Tradierungen ausgezeichneten
Gesellschaft. In fast allen Kulturkreisen lässt sich diese Herkunft der Lyrik
aus dem Mythos nachzeichnen, beispielsweise in der orientalischen, chinesischen,
indischen, polynesischen etc. Die Geburt der Lyrik aus dem Geist der Musik geht
im Übrigen in der späteren Entwicklung nie ganz verloren, bis in unsere Tage
bestehen enge Beziehungen zwischen dem lyrischen Gestus und dem Gestus der
Musik. Wir können den skizzierten Gang lyrischen Ursprungs im europäischen
Kulturkreis exemplarisch in der griechischen Literatur nachvollziehen; hierauf
kann ich jedoch im Rahmen des mir gestellten Themas nur verweisen.
In der Auflehnung gegen die Gottheit liegt
die Keimzelle der Provokation im Lyrischen. Anbetung und der Wunsch nach
mystischer Vereinigung auf der einen, und Auflehnung, gar destruktive Ablehnung
auf der anderen Seite, sind die beiden Extrempositionen lyrischer Ansprache der
Gottheit. Doch was im ersten Moment des Auftretens noch ganz im Bezirk des
Mythos oder einfacher, des Religiösen angesiedelt ist, kann als Auflehnung
gegen Obrigkeit, gegen Normen und Werte, gegen gesellschaftliche Zustände etc.
säkular gewendet in alle Bereiche menschlichen Daseins eindringen. Die
Provokation, der Gegengesang, der Widerruf, der Vorhandenes und scheinbar
Unverrückbares negiert, ad absurdum führt, kritisiert, der Lächerlichkeit
preis gibt, steht dann auf der extremen anderen Seite der lyrischen Äußerung.
Ein Weiteres ist in den Blick zu nehmen,
wenn wir uns mit dem Phänomen der Provokation beschäftigen, vollends in dem
kleinen Teilbereich der Lyrik, die als provokativer Akt verstanden werden soll.
Es ist stets zu analysieren, auf welcher Seite die Provokation stattfindet. Ist
schon der Produktionsprozess als provokativer Akt geplant? Findet die
Präsentation des lyrischen Produktes auf provozierende Art statt? Trifft die
gewünschte Provokation überhaupt den Rezipienten, d.h. wird sie von diesem
überhaupt als Provokation, als Angriff oder Gegengesang wahrgenommen..? Dies
ist die eine Seite der Medaille, die des Produzenten, wobei im letzten Fall der
Rezipient schon mit in den Blick genommen wurde, hier jedoch mit dem großen
Fragezeichen des Provokations-Erfolges, der v.a. bei länger zurückliegenden
lyrischen Provokationsakten zudem nur noch historisch vermittelt, in der Analyse
aufgedeckt werden kann. Andererseits können gar nicht mit dem Impetus der
Provokation erzeugte Gedichte, Texte, Collagen etc. auf einen bestimmten
Rezipientenkreis provozierend wirken, weil sie Inhalte ansprechen, sich Formen
bedienen, Strukturen zeigen oder eine Vortrags- bzw. Präsentationsart, die
gegen vorhandene Muster, Tabus etc. verstößt; so dass dieser Verstoß
unwillkürlich als Provokation wahrgenommen werden muss.
Ich kann im Folgenden diesem gesamten
Bündel an Fragestellungen nicht im Einzelnen nachgehen. Es wird jedoch immer im
Hintergrund meiner folgenden Gedanken wie ein Cantus firmus mitschwingen und mit
zu bedenken sein.
Und ich kann es Ihnen nicht ersparen, vor
meinen knappen historisch-inhaltlichen Überlegungen zur "Lyrik als
Provokation" noch eine für den Gesamtzusammenhang und das Verständnis der
Wirkweise von Provokation wichtige Einordnung vorzunehmen. Die Provokation als
Gegengesang, Widerruf, ja Angriff kann in der Wirkung auf etwas reagieren oder
zur Reaktion herausfordern. Es ist also stets zu bedenken, ob der Autor
lyrischer Provokation selbst auf eine Person, Institution, Handlung, auf
gesellschaftliche Zustände, politische Verhältnisse etc. mit einer Provokation
reagiert, will meinen sich zum Gegengesang herausgefordert fühlt, oder ob er
das angesprochene Du, den Gegenüber, die Gesellschaft etc. durch sein Gedicht,
seinen Text provozieren, zum Widerstand, gar zur Aggression herausfordern
möchte. Und auch diese beiden Seiten sind in den meisten Fällen nicht
voneinander zu trennen, sondern laufen simultan-dialektisch ab. Gegenrede
erzeugt Widerstand, erzeugt Gegenrede, erzeugt Aggression, erzeugt Gegenrede,
erzeugt Wut, erzeugt Gegenrede, erzeugt Provokation, erzeugt Provokation,
erzeugt Provokation und so fort...
Und hier ist nun nóch einmal zwischen dem
Autoren-Ich und dem sich im Gedicht aussprechenden lyrischen Ich zu
unterscheiden, wie auf der anderen Seite der vom Autor intendierte, ja eventuell
direkt angesprochene Rezipient, vom allgemeinen Leser/Hörer, gar noch dem
"nur noch" historisch vermittelt rezipierenden, unterschieden werden
muss. Hier ist allerdings, wie zuvor, wiederum die Unschärfe der
Abgrenzungsmöglichkeit zu unterstreichen. Denn sowohl auf Seiten des sich
aussprechenden Ich, und noch mehr in Bezug auf die Rezipienten und die
Rezeptionssituation verwischen sich eindeutige Grenzen.
Nun sind die knapp skizzierten
Überlegungen zur Wirkweise, zum Ort, zur Produktion mit Autor- und lyrischem
Ich und zur Rezeption noch einmal jeweils miteinander zu Verknüpfen. Und
schnell wird klar, dass es sich hier um ein kaum entwirrbares Bezugsgeflecht
handelt, in welchem jeweils andere Prioritäten herrschen. Mir ist wichtig, im
Folgenden diesem Bezugsgeflecht Aufmerksamkeit zu zollen, ohne es explizit
erwähnen zu müssen.
Lassen Sie uns nun einige historische Orte
der Lyrik als Provokation aufsuchen. Die knappe Auswahl kann in der Kürze der
zur Verfügung stehenden Zeit nur ein Nippen am gefüllten Fass sein, wobei die
Auswahl der Sorten bewusst gewählt ist. Springen wir also nach Vorklärung der
Regularien, Einschränkungen und Bedingungen unter welchen Lyrik als Provokation
statt hat, gemeinsam hinein ins pralle Thema.
Die Provokation in lyrischem Gewand kann
sich in den unterschiedlichsten Ausprägungen zeigen. Sie ist jedoch stets - und
das muss nachdrücklich unterstrichen werden - immer als Gegenposition, als
Widerruf gegen vorhandenen lyrische Formen zu verstehen; sie ist somit immer ein
sekundäres Phänomen, das den positiven, bejahenden Vor-Wurf braucht, um
satyrisch, zynisch oder ironisch verfremdend nach- oder zurückwerfen zu
können.
Die unterschiedlichen Ausprägungen von
Lyrik als Akt der Provokation können sich auf formale Aspekte, rhythmische
Gestalt, metrische Feinheiten, inhaltliche Fragestellungen etc. beziehen; sie
können sehr fein und hintersinnig oder eher grobschlächtig, mit der
Brechstange einherkommen; sie können sich auf Überzeitliches beziehen oder
zeitkritisch einzelne Phänomene in Politik, Kunst, Gesellschaft etc. aufs Korn
nehmen. Alles ist vor der Folie von Vorhandenem fähig, zum Gegengesang
herauszufordern.
Lassen Sie mich einige herausragende
Bereiche lyrischer Provokation umreißen bis zum Feld der politischen Lyrik -
einem Hauptbereich, der zumeist mit dem Impetus der Provokation daherkommt -,
jeweils in wichtigen und markanten Stationen der jeweiligen historischen
Abfolge.
Ich werde hier nicht eingehen auf den
Bereich der erotischen Literatur, in welchem sich in provokativer Absicht
geschriebene Gedichte mit solchen mischen, die durch Tabu-Brüche für breite
Gesellschaftsschichten als provokativ gelten müssen. Dieser große Bereich
wäre einer besonderen Betrachtung wert, soll jedoch hier einerseits wegen der
Problematik psychologischer und gesellschaftspolitischer Einordnung,
andererseits um Sie, meine Damen und Herren nicht durch Schweinereien zu
provozieren, ausgeklammert werden
Lassen Sie mich zunächst den Bereich der
Kontrafaktur beleuchten, der sich besonders für Akte der Provokation eignet,
wobei die lyrische Kontrafaktur häufig Melodie-gebunden ist, aber auch als
reine Text-Kontrafaktur auftreten kann. Hier muss ich wohl zum besseren
Verständnis einen kurzen Exkurs zur Kontrafaktur einfügen, denn nicht jedem
wird dieser sowohl in der Musik- wie auch in der Literaturwissenschaft
gebräuchliche Begriff präsent sein. Unter Kontrafaktur - aus dem lat.
"contra = gegen" und "facere = machen" gebildet - verstehen
wir einen Text, der auf eine vorhandene Melodie und mithin eben auch auf eine
vorhandene Strophenform gedichtet wird. Als deutsche Umschreibung des
Fachterminus ließe sich eventuell Gegenschöpfung oder Nachbildung verwenden.
Diese Form ist seit dem Mittelalter gebräuchlich, wo mittelhochdeutsche Texte
in Melodiegemeinschaft mit mittellateinischen, französischen und
provencalischen Liedern auftauchen, wobei die deutschen Texte zumeist
nachgeordnet, mithin Kontrafakturen sind. In der katholischen Mystik des 15.
Jahrhunderts und vor allem der geistlichen Dichtung - überwiegend des
Protestantismus - im 16. und 17. Jahrhundert ist eine weitere Blütezeit. Im
gesanglichen Vollzug des Gedichtes wird sich natürlich beim Zuhörer
unmittelbar der Gedanke an die Vorlage einstellen, auf die der neue Text
gedichtet wurde. In den meisten Fällen, so bei unzähligen Kirchenliedern, die
nach weltlichen Liedern und Tanzmelodien oder auch auf die Melodien anderer
geistlicher Lieder - manches Mal der anderen christlichen Konfession - gebildet
sind, ist natürlich kein Moment der Provokation vorhanden - wenn dies auch im
Fall des Konfessionstausches sogar im einen oder anderen Fall durchscheint. Die
Kontrafaktur ist natürlich auch für den großen Bereich der
Gelegenheitsdichtung eine überaus beliebte Form, um bei Jubiläen und Feiern
witzige, manchmal persiflierende, aber auch besinnliche Akzente zu setzen.
Doch schon beim ersten Auftreten von
Kontrafakturen im Mittelalter ist Polemik und Provokation im Spiel. In der
berühmt gewordenen Fehde über die rechte Art und Weise, die Minne zu einer
geliebten Frau zu besingen, die Walther von der Vogelweide wohl zu Beginn des
13. Jahrhunderts mit Reinmar dem Alten ausfocht, gibt es ein Lied Walthers, das
mit der Anweisung "In dem done: ich wirb umb allez daz ein man"
überschrieben ist. Dieses polemisiert in der Strophenform und damit wohl auch
auf die uns heute unbekannte Melodie eines Minne-Liedes von Reinmar, mit
direkten Zitaten und Anspielungen auf dessen Text, gegen Reinmars
Minne-Auffassung.
Einen besonderen Bereich, auf den ich nur
hinweisen möchte, bilden die vielfältigen Kontrafakturen zu Nationalhymnen,
die natürlich zumeist in persiflierend-provokativer Absicht produziert werden.
Durch die deutschen Gerichte zieht sich eine Spur von Urteilen, in welchen das
Problem der Verunglimpfung staatlicher Symbole gegen die Freiheit der Kunst auf
Justitias Waage gelegt wurde. Dies verweist zum einen in den direkt folgenden
Abschnitt, da diese Texte häufig parodistische Elemente aufweisen, andererseits
gehören sie als Sonderform dem weiter unten zu behandelnden Bereich der
politischen Lyrik-Provokationen an.
Eng verwandt mit der Kontrafaktur ist die
Parodie, die allerdings nicht auf das Lyrische beschränkt bleibt, sondern sich
seit griechischer Zeit - ich erinnere an Komödien des Aristophanes als Parodien
auf Tragödien des Euripides - stark in der Dramatik und später vor allem im
Epos austobt. Zumeist weniger eng als die Kontrafaktur übernimmt die Parodie
kennzeichnende Formmittel oder Inhaltsbereiche, die in kritischer, polemischer
oder satirischer Absicht, aber mit gegenteiliger Intention nachgeahmt werden, um
damit beim Hörer bzw. Adressaten das Ausgangswerk in tatsächlich vorhandenen
oder vermeintlich anzugreifenden Schwachpunkten zu entlarven. Die Parodie wendet
sich provozierend gegen alle Formen des Heroischen und des konventionell
Sentimentalen, damit die oben skizzierte Auflehnung gegen die hymnische
Verehrung des Göttlichen säkular fortsetzend. Und auch in der Lyrik - hier vor
allem das konventionell Sentimentale aufs Korn nehmend - findet die Parodie
wiederum seit der Antike, und im deutschen Sprachraum seit dem Mittelalter ein
reiches Betätigungsfeld. Hier sind in mittelhochdeutscher Zeit vor allem
Neidhart und Steinmar zu nennen, die derb-erotisch den höfischen Minnesang in
eine dörfliche Umgebung versetzen und mit die Schamgrenzen bei weitem
übersteigenden erotischen Liedern, die gespickt sind mit sexuellen Anspielungen
und Metaphern, parodistisch gegen den hohen Minnesang polemisieren und so die
arrivierten Sänger provozieren und ihrerseits zu scharfem Widerspruch
herausfordern. Ich darf in diesem Zusammenhang nur an die Klage des alten
Walther von der Vogelweide über das dörperliche Singen erinnern, das Inhalt
und Form des wahren Liebesgesangs destruire. In allen Zeitläuften, vor allem im
späten 18. und 19. Jahrhundert und den sentimentalischen, empfindsamen und
bisweilen ins Triviale abgleitenden Lyrikprodukten, findet die lyrische Parodie
in provozierender Absicht ein beliebtes Betätigungsfeld. In neuerer Zeit
möchte ich unter den vielen sich oft in der Kleinkunst-Szene tummelnden
Parodisten einen der großen Hervorheben: Peter Rühmkorf, den wir denn auch bei
den Provokateuren der politischen Lyrik wiederfinden.
Ein zweiter Bereich lyrischer
Produktivität, in welchem Provokation, Aufrütteln, Widerspruch seinen Platz
hat, sind tradierte und verfestigte, letzthin nicht mehr hinterfragte
ästhetische Strukturen, Formen, Konstanten. Das Gedicht ist ein kürzeres,
sprachlich verdichtetes, in Versen geschriebenes Sprachkunstwerk, zumindest dem
Anspruch nach. Diesen Satz dürfte heute nicht mehr ein jeder ohne
Einschränkungen unterstreichen. Denn selbst diese Aussage, bis ins 19.
Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit - wobei in der Diskussion
dessen, was als Vers zu verstehen sei, keineswegs Einigkeit herrschte -, gilt
heute, nach Prosagedichten, DaDa und konkreter Poesie, nicht mehr.
Auch diese Auflösungstendenzen haben eine
längere Geschichte, denn wo in ästhetischen Hervorbringungen Formen fest,
scheinbar unverrückbar werden, kommt bald der Wunsch nach Überstieg der
scheinbar naturgegebenen Grenzen auf. Schon im Barockzeitalter finden sich
Auflösungen der äußeren Form, indem die Texte in emblematische Figuren
(Kreuz, Herz etc.) einfließen. Dies geschieht jedoch einerseits ohne die
Textstruktur zu verändern, das heißt ein in Versen geschriebenes Gedicht
bleibt in seiner inneren Form unverändert; und dies geschieht andererseits
nicht in Distanz schaffender Absicht, sondern im Gegenteil, um die durch den
Text gegebene Aussage noch durch die emblematische Form zu unterstreichen, schon
beim ersten Anblick des Textes einem bestimmten Inhaltsbereich zuzuordnen.
Ähnlich sind Auflösungstendenzen, wenn
in zum Teil ironischer Weise lautmalende Elemente in die Lyrik Aufnahme finden,
die weit über die onomatopoetischen Grundlagen der Wörter hinausreichen. Auch
dies hat seinen Ursprung in unserem Kulturkreis im Mittelalter. So sind bei
Walther von der Vogelweide und Neidhart Refrains mit lautmalenden Elementen
vorhanden - "tandaradei", "traranurunturundei". Und bei den
Autoren des späten Mittelalters weitet sich dies aus und wird zu einem, wenn
auch extensiv gebrauchten Mittel der Lyrik.
Beide Möglichkeiten werden nun im
ausgehenden 19. Jahrhundert, aber vor allem im DaDa der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts und der konkreten Poesie in der zweiten Hälfte experimentell und
in zuweilen provokativer Absicht wieder in die Lyrik eingeführt. Von
Morgensterns "Fisches Nachtgesang" bis hin zu Reinhard Döhls
"Apfelgedicht" gehen hierbei die emblematischen Experimente. Wo
Morgenstern oder Ringelnatz noch ohne expressis verbis negativ künstlerischem
Programm dem ironisch Gebrochenen oder Witzig-Skurrilen im Material der Sprache
nachspüren, wird die Provokation im Dadaismus zum Programm. Die ab 1916 als
Anti-Bewegung gegen Tendenzen der Zeit des ersten Weltkrieges in Zürich
entstandene Kunst- und Literaturrichtung, die mit einem revolutionären Impetus
eine Synthese aus expressionistischen, futuristischen und kubistischen
Kunsttendenzen anstrebte, hatte ihren ästhetischen Ausgangspunkt im Züricher
"Cabaret Voltaire" und ist ursprünglich eine literarische
Revolutionsbewegung gegen "den Wahnsinn der Zeit", wie sich einer
ihrer Protagonisten, Hans Arp, ausdrückte. Der künstlerische Wiederstand der
Dadaisten im "Cabaret Voltaire" richtete sich gegen das aus dem 19.
Jahrhundert zehrende Bildungsbürgertum, dem beispielsweise Hugo Ball vorwarf,
für "die grandiosen Schlachtfelder und kannibalischen Heldentaten"
verantwortlich zu sein. Man provoziert nicht aus der Lust am Wiederspruch,
sondern aus einem Ekel gegenüber den - auch ästhetischen - Wertmaßstäben der
Zeit, die für überholt, ja schlichtweg für ungültig erklärt werden. Dies
gipfelt in der Proklamation der absoluten Freiheit der Kunst, bzw. der
ästhetisch-künstlerischen Produktion. Ihre programmatischen Provokationen
gegen das Kunst-Establishment fanden ihren Niederschlag vor allem in der
Zeitschrift "Dada", die ab 1917 von Tzara herausgegeben wurde. Im
künstlerischen und enger lyrischen Bereich führten sie zu provozierenden und
die an Stefan George und Reiner Maria Rilke gebundene Lyrikgemeinde zutiefst
verunsichernden Collagen, reduzierten Texten, Lautgedichten, Zufallstexten, den
Ball’schen "Versen ohne Worte" und im Extrem zu den sogenannten
"Geräuschkonzerten".
Hier hat die Provokation gegen in die
Weltkriegs-Katastrophe führende gesellschaftliche Zustände in der Lyrik tiefe
Spuren hinterlassen; Spuren, die keine Lyrikerin, kein Lyriker, der in heutiger
Zeit schreibt, ohne Beachtung lassen darf, da nur die reflexive Durchdringung
der Vergangenheit in ihren langen Kontinuitäten und vielfältigen Brüchen
künstlerisches Potential auf der Höhe der Zeit zur Entfaltung bringt.
Allerdings hat es der DaDa nie geschafft, eine einheitliche eigene
Kunstgestaltung, einen eigenen Gruppenstil zu entwickeln, denn nach dem ersten
Weltkrieg und dem Ende des Zürcher Exils der Mitglieder zerfiel die Bewegung in
mehrere letztlich nicht mehr vereinbare Stränge. So kam der DaDa über die
Anti-Kunst, die pure Negation und Provokation nie hinaus; wiewohl er uns hierin
wunderbare Kunstwerke hinterlassen hat.
Die Spuren der lyrischen, dadaistischen
Provokation gehen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein.
Die Unterbrechung durch die grauenvolle Zeit des Nationalsozialismus und der von
deutschem Boden ausgehenden Völkervernichtung, in der auch Provozierendes durch
die Reichsschrifttumshauptkammer in der Literatur gefördert wurde, lasse ich
hier schnell wieder aus dem Blickfeld gleiten; staatlich geförderte Provokation
wider den gesunden Menschenverstand und wider die Menschlichkeit soll hier nicht
zum Thema gemacht werden. Deutsche Lyrik fand in dieser Zeit der Drangsal in
innerer und äußerer Emigration statt, verlor aber ihre zuvor erreichte
Leichtigkeit und Unbekümmertheit. Und der aus der Verzweiflung um den
stattgehabten Irrsinn entstandene, berühmte Satz, nach Auschwitz seien keine
Gedichte mehr möglich, hat eine sehr tiefe Wirkung auf die Lyriker der
unmittelbaren Nachkriegszeit ausgeübt. Hier finden wir denn die Spuren des DaDa
wieder, denn zuerst musste die Sprache, das Wort - jenseits der zur Barbarei
verkommenen Inhalte - wieder gewonnen werden. So entsteht der Umgang mit Wort
und Sprache als Materialität neu in der ab ca. 1950 auftretenden konkreten
Poesie, die sich bewusst auf den italienischen Futurismus und die
DaDa-Traditionen Hugo Balls und Kurt Schwitters’ beziehen. In den zwei
Spielarten der visuellen und akustischen Dichtung - für die auf der einen Seite
Gomringer und Döhl, auf der anderen Ernst Jandl exemplarisch genannt seien -
findet sich mit Blick auf die Lyrik-Tradition viel Provozierendes, wiewohl die
Texte, Collagen, Konstellationen zumeist nicht mit dem Impetus der Provokation
produziert sind.
Einen weiteren Bezirk lyrischer
Produktion, in welchem expressis verbis Provokation eine große Rolle spielt,
sind Angriffe auf Personen oder Institutionen, seien sie öffentlich publiziert
oder für einen esoterischen Kreis bestimmt. Die Grenze zur politischen Lyrik,
auf die ich gleich hernach zu sprechen kommen werde, ist hier fließend. Auch
hierbei gibt es antike Vorläufer, auf die ich nicht eingehe; ich möchte nur
einige wenige Hinweise geben auf den persönlich-provozierenden Bereich, der
aber natürlich stets auf Personen zielt, die im öffentlichen Leben eine wie
auch immer herausragende Rolle spielen. Auch dieser Bereich hat eine Tradition,
die vom Mittelalter bis in unsere Tage reicht. Das beginnt wiederum bei Walther
von der Vogelweide, der im sog. Atze-Ton einen Herrn Gerhard Atze polemisch
angreift, der ihm zu Eisenach sein Pferd erschossen habe. Selbst vor politischen
Größen seiner Zeit schreckt Walther nicht zurück. So wird König Otto in
einem Spruch scharf angegangen, weil dieser nicht zu seinem Wort gestanden habe.
Solche provokativen Verbalinjurien gegen Personen finden sich in der
Reformations- und Gegenreformationslyrik genauso wie in der Klassik oder in
Lyrikepochen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein besonders bemerkenswertes
Beispiel ist uns von Goethe überliefert, der ja im übrigen auch im Bereich der
zu allen Zeiten als Provokation verstandenen anzüglich erotischen Literatur
einiges zu bieten hat, ich mag hier nur an die unzensierte Handschrift
vorletzter Hand der "Venetianischen Epigramme" aus dem Jahr 1790
erinnern oder Teile der ursprünglichen Fassung der "Römischen
Elegien" von 1788. Bei diesem klassischen Beispiel privater gegenseitiger
Provokation lassen Sie mich einen Moment verweilen. Der ins Fäkalische
abgleitende lyrische Text "Freuden des iungen Werthers", der auch
bekannt geworden ist unter dem Titel "Nicolai auf Werthers Grabe",
zielt mit brutaler Provokation auf Friedrich Nicolai, der 1775 eine Parodie auf
"Werthers Leiden" veröffentlicht hatte. Goethe muss sich durch diese
Parodie provoziert gefühlt haben, er reagierte überaus gereizt, gekränkt. In
Dichtung und Wahrheit heißt es: "Dann verfasste ich, zur stillen und
unverfänglichen Rache, ein kleines Spottgedicht, ‚Nicolai auf Werthers Grabe’,
welches sich jedoch nicht mitteilen lässt." Der Text ist zu Lebzeiten
Goethes nicht veröffentlicht worden, aber so "still und
unverfänglich", wie Goethe es darstellt, war die provokative Rache denn
auch nicht; diverse Abschriften kursierten unter seinen Freunden. Hier haben wir
die eingangs angedeutete Gemengelage unterschiedlichster Provokationsschichten
deutlich vor Augen. Nicolai provoziert Goethe mit seiner veröffentlichten
Parodie in gezielter Absicht. Goethe reagiert, indem er seine Freunde, die zum
Teil auch mit Nicolai bekannt waren, mit dem Spottgedicht versorgte. Dass dieser
Text Nicolai gänzlich unbekannt geblieben ist, darf bezweifelt werden. Trotzdem
ist erst ex post, aus dem Nachlass heraus, diese Provokationskette, die sich nur
zum Teil öffentlich, ansonsten privat abspielte, zu rekonstruieren. Wir wollen
es bei diesem Beispiel persönlicher Provokation bewenden lassen.
Schon im Zusammenhang mit Walthers von der
Vogelweide Otten-Ton, der sowohl persönlich, als auch zutiefst politisch –
als in den staufisch-welfischen Konflikt eingreifend - gedeutet werden kann,
habe wir den wichtigsten Bereich öffentlich ausgetragener lyrischer Provokation
gestreift. Die politische Lyrik, die wohl die meisten und weitest verbreiteten
provozierenden Texte hervorgebracht hat. Und wenn der Studiosus Brander in
Auerbachs Keller (Faust I, Verse 2092-2096) das politische Lied als ein
"garstig Lied" bezeichnet, so ist gerade dieser angreifende,
polemische und provokative Zug gemeint, der die politische Lyrik zum Instrument
der Agitation werden lässt.
Schon eingangs habe ich in meinem
anthropologischen Anlauf beschrieben, wie die Lyrik gleich der Religion über
Jahrhunderte der Legitimation von Herrschaft und im besonderen von
Herrschaftsinteressen diente. Schnell kommt jedoch auch die gegenteilige,
kritische Haltung auf, Veränderung bestehender politischer Herrschafts- und
Gesellschaftsformen wird angemahnt, und dies hat wenn nicht explizit so doch
implizit immer auch eine provokative Seite. Im deutschen Mittelalter waren
Hauptthemen der politischen Lyrik, das heißt v.a. der Spruchdichtung, Reich,
Kirche, Herrscher, die Städte und die Bürger, sowie in Ansätzen soziale
Probleme, wie das Aufeinanderprallen ständischer Gliederungen, z.B. Bauernstand
vs. Rittertum. In der politischen Dichtung Walthers von der Vogelweide standen
v.a. die Auseinandersetzungen zwischen Imperium und Sacerdotium, sprich Kaiser
und Papst, sowie Welfen und Staufern, oder die Kreuzzüge als die wichtigsten
Themen der Zeitgeschichte im Vordergrund, die in häufig
polemisch-angriffslustigem Ton vorgetragen wurden. Das 14. Jh. stellt die
Territorialkämpfe in den Mittelpunkt politischer Lyrik, und im 15. Jh. werden
entscheidende historische Ereignisse wie beispielsweise das Konstanzer Konzil
oder die Hussiten- und Türkenkriege in oft parteiisch-provokativ vorgetragener
Lyrik angesprochen. Nach Peter Seibert bedeutet in der Reformations- und
Gegenreformationszeit "Politisierung der Literatur [...] hier wie im Barock
in der Regel Konfessionalisierung der Literatur", d.h. politische und
religiöse Dichtung nähern sich an, verschmelzen gar miteinander; wobei gerade
hier, wie schon oben im Umfeld der Kontrafaktur angemerkt, die Polemik und
konfessionelle Provokation scharfe Töne anschlägt. Affirmative wie
herrschaftskritische Lyrik des Barock wie der Reformationszeit greifen häufig
– wohl zu Erhöhung der Popularität auf volkstümliche Formen und Traditionen
zurück.
Das spannungsreiche Verhältnis zwischen
Politik und Dichtung und hier im engeren Sinn politischer Lyrik hält über alle
Epochen hin bis heute an. Hans Magnus Enzensberger postuliert in seinem Essay
"Poesie und Politik" 1962 das "Recht der Erstgeburt" der
Poesie gegenüber dem sonstigen Primat der Politik, aber schon 1968 fordert er
in "Gemeinplatz, die Neueste Literatur betreffend" die Abdankung der
Poesie und stellt den politischen Gebrauchswert eines Textes über den
ästhetischen Darstellungswert. Der nächste Nach-68er-Umschwung folgt schon
Anfang der 70er Jahre; die ästhetische Distanz dominiert wieder gegenüber den
eigenen politischen Erfahrungen.
Politische Dichtung und insbesondere
politische Lyrik steht immer neu vor der Aufgabe, die adäquate ästhetische
Form dem politischen Inhalt, sei er affirmativer oder kritischer Art,
anzupassen. Vor allem politische Provokation, die den Rang des lyrischen
Kunstwerks anstrebt, steht vor diesem Problem.
Robert Prutz beschreibt um die Mitte des
19. Jahrhunderts - nach den Erfahrungen des Vormärz und der 48er-Zeit - die
provokative Wirkung politische Lyrik, "die vornehme Geringschätzung des
politischen Gedichts als eines Wechselbalgs, eines unehrlich geborenen Kindes,
bei dessen Anblick züchtigen Leuten unwohl wird", und resümiert, dass
"politische Poesie bei uns meist für ein Ding gilt, welches entweder als
unmöglich, nicht existirt, oder als unberechtigt, doch nicht existiren
sollte".
Ich komme, meine Damen und Herren, zum
Schluss, und fasse kurz einige wichtige Grundzüge des Themas zusammen.
"Lyrik als Provokation" ist im Gang der Ausfaltung einer lyrischen
Tradition ein sekundäres, wenn nicht tertiäres Phänomen, das eine kritische
Einstellung zur Umwelt und zur ästhetisch-literarischen wie politisch-sozialen
Tradition voraussetzt. Der eigentliche Akt der Provokation kann in den
Rezeptionsbedingen, in der äußeren Form, in inhaltlichen Anspielungen und
Angriffen, in Tabubrüchen etc. liegen. Alle Bereiche lyrischer Produktion,
können in provokativer Absicht oder mit provokativer Wirkung gestaltet sein.