Rechtschreib-Essay

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Rüdiger Krüger/Jakob Ossner

Die Geschichte der Rechtschreibung der letzten 25 Jahre.

Ein Bericht an die Mitglieder der Sektion "Deutsche Sprache"

Die Sektion wurde 2001 auf der Grundlage der Charta für Europäische Hochsprachen gegründet, die in Anlehnung an die "Charta der Regional- und Minderheitensprachen" entworfen worden war.

 

Die deutsche Rechtschreibung im Jahre 2020.

Die Aufregung der letzten fünf Jahre des 2. Jahrtausends, in welchen es den Anschein hatte, als gäbe es kein Thema, das die Gemüter der Durchschnittsdeutschen mehr zu erregen vermag als die Reform der Rechtschreibung – von "Mißhandlung der Kultur" und ähnlichem war die Rede, parlamentarische Debattenschlachten und Volksbefragungen wechselten sich in der Bonner Republik mit Urteilen von lokalen Amtsgerichten bis hin zum BVG ab – ebbte schneller ab als gedacht, wie die Wogen der nach heftigem Orkantief über Schottland eben noch wütenden Nordsee an einem sonnigen Frühlingstag. Die Berliner Republik hatte andere Sorgen.

Nunmehr sind annähernd 25 Jahre vergangen, seit die politischen Repräsentanten der deutschsprachigen Staaten sowie der Staaten mit deutschsprachigen Minderheiten in einem aus unzähligen Kompromissen bestehenden Kompromiss ein Regelwerk vorlegten – das in langen und schmerzhaften Arbeitsjahren von Germanisten, Linguisten und Didaktikern vorbereitet wurde –, und das die orthographischen Regeln des Kompromisses von 1901 reformieren, den Bedürfnissen des kommenden Millenniums anpassen sollte.

Werfen wir einen Blick, oder einige wenige Blicke, zurück:

1.8.2005

Die Ereignislosigkeit der Sommerwochen lässt einen Bild-Zeitungsredakteur sich daran erinnern, daß ab heute bei der Benotung der Rechtschreibleistungen andere Maßstäbe angesetzt werden. Fett können die Bundesbürger lesen: "Wieder mehr Rechtschreibfehler in der Schule".

Der Text gibt Auskunft, daß nun endgültig die 1998 in Kraft getretene und 1999 auch von den Medien vollzogene Rechtschreibreform in Kraft ist. Lehrkräfte, die bislang gehalten waren, die sog. alte Rechtschreibung zu monieren, ohne sie als Fehler zu zählen, legen ihre grünen Stifte beiseite, nun herrscht wieder nur die Farbe rot.

Die letzten 6 Jahre hat sich merkwürdig wenig an öffentlicher Aufgeregtheit getan. Schon um die Jahrtausendwende verstummte der Weilheimer Vorkämpfer für das, was er als gewachsene deutsche Orthographie hielt, Friedrich Denk. Die einen sagten, weil ihm inzwischen sein Haus, das ihm weniger wichtig als die deutsche Orthographie war, gepfändet worden war; die andern, weil ihm langsam aber sicher die Basis wegbrach. Der Schriftsteller Martin Walser, der erst kürzlich mit dem Philosophen Peter Sloterdijk eine Denkschrift über deutsches Wesen und Werden veröffentlichte, erwähnte darin kein einziges Mal die deutsche Orthographie, was Friedrich Denk zur Einsicht bringen musste, daß ihm die Getreuen der Frankfurter Erklärung von 1996 endgültig die Gefolgschaft kündigten.

Bereits 1999 war deutlich geworden, wie sang- und klanglos die damals neue Orthographie eingeführt werden konnte. Am 1. August, die meisten Deutschen waren gerade nach Mallorca unterwegs, stellte die Deutsche Presse Agentur um, mit ihr die ganze Medienlandschaft. Kein Kommentar in der FAZ, die noch 1989, als das Vorhaben Rechtschreibreform ruchbar wurde, großspurig im Vorspann zu einer Darstellung von Gerhard Augst, dem Vorsitzenden der Reformkommission, verkündete, daß die Redaktion sich nicht aus der deutschen Sprache vertreiben lassen werde; kein Kommentar im Spiegel, der 1985 die Reform anzettelte, weil dem von ihm interviewten Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Georg Gölter, vorgestellt als Kultusminister und promovierter Germanist (!), in einem eher simplen Diktat von 89 Wörtern 6 Fehler unterliefen. Der Spiegel schrie nach Reform, denn wie sollte einem Schüler zugemutet werden dürfen, was ein Kultusminister nicht beherrscht, um dann, als sie da war, 1997 lapidar zu bescheiden, daß er sich dem nicht beugen werde. Aber auch der Spiegel wollte nicht alle Meldungen der dpa neu schreiben müssen, zumal inzwischen wohl einige Programme von der alten zur neuen Orthographie konvertierten, aber nicht umgekehrt. Die Hausmitteilungen des Spiegel vermeldeten am 1. August 1999 anderes! Selbst die deutsche Schriftsteller- und Politikerschar von Kohl bis Weizsäcker (Richard von !), die ihr orthographisches Schicksal in die Hände der VG-Wort gelegt hatte, die darüber wachen musste, daß ihre Texte nicht neu orthographiert wurden, vergaßen ihre Heldentaten, und nach und danach verschwand aus den Lesebüchern der Nation der Zusatz "Dieser Text ist aus lizenzrechtlichen Gründen in alter Orthographie verfasst". Siegfried Unseld, der ganze Werke Verstorbener vor dem, was er als Sprachverfall verdächtigte, retten wollte, konnte bei den Verhandlungen über seine Nachfolge diese Marotte nicht durchsetzen, so daß auch Max Frisch einer orthographischen Frischzellenkur unterzogen werden konnte. Vorausgegangen war, daß die Verfasser und Herausgeber von Lesebüchern zunehmend von den Kultusbehörden angewiesen wurden, Texte von reformunwilligen Autoren nach und nach nicht mehr zu berücksichtigen.

An diesem 1.8.2005 genossen 3 in der Republik ihre stille Freude. In einem kleinen Dorf Oberbayerns war der bayrische Kultusminister Hans Zehetmaier stolz darauf, daß er dem Spiegel nur einmal auf den Leim gegangen war, um dann standhaft die Reform zu verteidigen. Da es in Bayern damals nicht besonders schwer war, diejenigen Gutachten aus Schulversuchen zu bekommen, die gerade opportun waren, konnte er schon 1998 der erstaunten Nation verkünden, daß bayrische Kinder nach der neuen Orthographie weniger Fehler als nach der alten machten. Wer jetzt noch gegen die Reform war, stand sozusagen dem Glück und dem Erfolg seines Kindes im Wege.

Zwischen Siegen und Gießen dachte Gerhard Augst während einer Zugfahrt, daß er nun auch gerne wieder einmal die schöne Stadt Erlangen besuchen werde. Th. Ickler, der bis 1998 seinen Ruhm stetig mehren konnte und der ihn mit den Nationalsozialisten in eine Ecke stellte, hatte seit 2000 nicht mehr publiziert. Seinen Artikeln, an die FAZ gesandt, wurde nicht einmal mehr der Eingang bestätigt.

Schließlich konnte in Greifswald Dieter Nerius seine Genugtuung nicht verbergen, daß zwar die prononcierten Versuche aus Bad Homburg und Potsdam, der Orthographie ein theoretisches Fundament zu geben, nicht aufhörten, aber kulturpolitisch vollständig verpufften. Die waghalsigen Unterscheidungen zwischen Onsetmaximierung und Silbengelenk, Sprechsilbe und Schreibsilbe sowie der Trennsilbe bewegten zwar mäßig kleinere Arbeitskreise der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, einem größeren Publikum blieben solche Differenzierungen fremd, zumal sich dieses Lager untereinander nicht einigen konnte, welche theoretische Basis zu favorisieren sei.

Es war eine orthographische Ruhe eingekehrt, die angesichts der weltpolitischen Verschiebungen in dieser Zeit nicht verwunderlich war. Im Zeichen der Globalisierung und Sicherung der Renten auf welchem Niveau auch immer muteten Fragen, ob im folgenden oder im Folgenden etwas kindisch an. Alle Kenner der Orthographie einte die Überzeugung, daß es ein großer Fortschritt sei, daß selbst der Verband Grundschule e.V. die Forderung nach einer phonetisch orientierten Schrift nicht mehr erhob und seinen Mitgliedern die Erörterung der Frage, ob die Kinder unter einer solchen Schrift nicht schneller und effektiver lernten, verboten hatte. Es gab sogar im Gefolge der Debatte fachdidaktische Versuche, die deutsche Orthographie als schriftsprachlichen Abenteuer- und Entdeckungsspielplatz zu modellieren. Titel wie "Auf dem Weg zur deutschen Orthographie", "Orthographie entdecken", "Abenteuer Orthographie" erlangten hohe Auflagenzahlen, allerdings ohne merklichen Zuwachs an rechtschriftlicher Kompetenz bei den Schülern. Seit der 1. Reform 1901/02 waren die Fehlerzahlen, sofern sie überhaupt vergleichbar waren, konstant. Ca. 90 % der Schüler erlernte die Orthographie zwar nicht immer gerade in dem Schuljahr, in dem der Stoff dafür vorgesehen war, aber doch mit Erfolg.

Nur auf einem eher marginalen, aber emotional hoch besetzen Feld fanden noch einige mit Vehemenz geführte, auch didaktische Rückzugsgefechte statt. Nach dem anfänglichen wochenlangen Üben der Kleinschreibung von du, dein, euer etc. und der Trennung einzelner Vokale im Wortanlaut wie O-ma, O-pa und A-men in 3. und teilweise 4. Grundschulklassen – man konnte meinen, dies sei für manche Grundschullehrerin neben der ss/ß-Problematik (in der die Berichterstatter eine spezifische Position einnehmen) das Hauptanliegen der neuen Schreibung – kam durch eine wütende Kampagne der Grauen Panther anlässlich des Bundestagswahlkampfes 2003 die Wende. Die Vertreterinnen der Senioren drohten mit einem neuen Generationenvertrag, der die pauschale Enterbung der Enkelgeneration vorsah, wenn weiterhin in weihnachtlichen Dankesschreiben die flegelhafte Kleinschreibung der persönlichen Anrede oder gar die Trennung von Omas und Opas auftauchten. Man forderte Lehrerinnen wie Schüler zum zivilen Ungehorsam auf. Die Rechtschreibkommission hatte ein Einsehen und gab einerseits die Groß- bzw. Kleinschreibung der persönlichen Anrede frei ("Auch bei der persönlichen Anrede kann in begründeten Fällen das Pronomen du in all seinen Flexionsformen in einer groß geschriebenen Höflichkeitsform verwendet werden; als Hauptvariante gilt jedoch die Kleinschreibung.") und beschränkte andererseits die Trennung einzelner anlautender Vokale am Zeilenende auf die vom jeweiligen Layout vorgegebenen typographischen Notwendigkeiten von Druckschriften.

Und so erlernten und erlernen die Schüler seither eine Orthographie in einer der vielen möglichen Regelauslegungen so gut oder so schlecht wie ehedem, um danach im Berufsleben mit ihren Orthographiekenntnissen so gut oder so schlecht zurecht zu kommen wie Mutter und Vater, Oma und Opa zuvor – wenn auch unter etwas anderen Orthographieregeln.

Da die Berufsgruppe der Setzer längst ausgestorben war, das Setzen von Manuskripten einer vergangenen Epoche angehörte, war auch der Druck gegen die vorgesehenen Alternativschreibungen relativ gering. Je nach subjektiver Einstellung wählte man sich in den konservativen oder progressiven Modus der vorhandenen Konvertierungsprogramme ein und das Programm wählte Ghetto oder Getto, Spaghetti oder Spagetti; und je nachdem, welches Konvertierungsprogramm man sich gerade gekauft hatte, wollte man jemanden wieder sehen oder wiedersehen. Dabei war es noch als Segen anzusehen, wenn ein Text von älteren Schreibern zunächst in der ihnen gewohnten alten Schreibung verfasst und dann über ein vernünftiges Konvertierungsprogramm gefiltert wurde. So war – zumindest bei rudimentär vorhandenem Regelwissen, um die vielen Rückfragen des Programms zu entscheiden – wenigstens pro Schreiber eine einheitliche Rechtschreibung innerhalb der von den Regeln vorgegebenen Möglichkeiten erwartbar.

Apropos "vernünftiges" Konvertierungsprogramm ist anzumerken, daß weder Bertelsmanns "Orthograf" noch die 2000er-Versionen des Duden-Konverters oder PC-Konvert 5.0 von AOL in ihrem Bemühen, es den Usern so leicht wie möglich zu machen, Positives bewirkten. Die Heuristiken wurden weiter entwickelt und ihre automatische Nutzung zur Norm; und man musste nun eigens ein Extramodul laden, wenn man die erworbene Rechtschreibkompetenz unter Beweis stellen wollte – und wer wollte dies schon, konnte man doch so dem gräßlichen Entscheidungsdruck aus dem Weg gehen. Bei "Orthograf" modifizierte das Benutzerlexikon Presseagenturen.obl die Standard-Konvertierregeln so, daß Texte, die in alter Rechtschreibung vorlagen, in die Orthographie der deutschsprachigen Presseagenturen konvertiert wurden. Das Konvertierungs-Procedere war jedoch vielen Redakteuren zu lästig, so daß sie sich wie in der Vergangenheit ihres je individuellen Orthographieverstandes bedienten! Wenn er denn konvertierte, konnte ein jeder sich sein eigenes Benutzerlexikon mit eigenen Konvertierungsregeln erstellen. Den Machern der Duden-Konvertierung standen zwar die Haare zu Berge, als dies 1999 erstmals bei "Orthograf" möglich wurde, aber sie beugten sich der Macht des Marktes und zogen mit vergleichbaren Versionen nach. Wer etwas auf sich hielt, legte sich – vor allem bei der Getrennt- und Zusammenschreibung mit zum Teil abstrusen Begründungen – eine möglichst eigenwillige Regelauslegung zu, die er zum Standard erhob.

Was in der Schule als Entdeckung zelebriert wurde, wurde mehr und mehr dem Programm überlassen. Genaues Lesen konnte sich sowieso zunehmend nur mehr leisten, wer verbeamtet oder pensioniert war. Man verließ sich beim Schreiben – wenn man tatsächlich noch mit den Fingern auf dem Keyboard schrieb und nicht direkt in den PC diktierte – zunehmend auf die den Textverarbeitungsprogrammen beigegebene Rechtschreibprüfung, die über die Jahre durch die wahllose Übernahme eigenwilligster Schreibungen zu ideographischen Müllhalden verkommen waren. Diese liefen automatisiert im Hintergrund mit und filterten alles, was dem PC gefüttert wurde. Unter www.rechtschreibkonverter.de konnte ein Jeder (und eine Jede) zudem sein "Orthograf"-geeignetes individuelles Benutzerlexikon uploaden und es so der Allgemeinheit großzügig zum Downloaden zur Verfügung stellen. Die Benutzerlexika waren mittlerweile softwaretechnisch so gestaltet, daß sie in die Rechtschreibprüfung einer jeden gängigen Textverarbeitung integriert werden konnte. Wildwuchs allenthalben.

Die Du- und Bindestrich-Schreibung waren die letzteren größeren Aktionen gewesen, die die Rechtschreibkommission beim IdS unternommen hatten. Wenn Kommissionen einmal in den Ruf kommen, daß sie im wesentlichen auf dem Rückzug sind, ist es schlecht um sie bestellt. Bereits zu Beginn des Jahrtausends hatte das IdS keinen Versuch mehr unternommen, die Rechtschreibkommission mit externen Wissenschaftlern zu besetzen. Der Beirat hatte unter sich diese Aufgabe verteilt wie andere auch. Mit den immer selteneren Anfragen kam man auch ohne größere Erörterung zurecht. Selbst im Sprachreport wurden orthographische Fragen nicht mehr angeschnitten.

31.12. 2015

Die Ruhe war natürlich trügerisch. Kurz nach 2006 hatte sich ein Internationaler Arbeitskreis zur Standardisierung von Nationalorthographien gebildet, der als erstes eine Charta zur Bewahrung der Nationalorthographien verabschiedet hatte. Der Grundgedanke war, daß jede Nationalorthographie für ihre Mitglieder eine maximale Verständigung ermöglichen sollte – inklusive einer liberalen Variantenhandhabung. Das war gut gemeint, warf aber die Frage auf, was die deutsche Nationalorthographie (unter Einschluss der österreichischen und Schweizer Varianten) sei. Flankiert von einer Kulturdebatte, die nostalgisch nach Identitäten jenseits des virtuellen Raumes suchte, besann man sich darauf, daß die Orthographie ein Einigungsinstrument ersten Ranges war. Die Liberalität der letzten Reform erschien unter dieser Perspektive als Schwäche der Dekadenz des vergangenen Jahrhunderts. Plötzlich standen sich die Lager der Normierer und Konventionalisten wieder unversöhnlich gegenüber. Die ersteren gaben sich geschichtsbewusst und verwiesen auf die großen Reformen, die ihrer Meinung nach kraftvoll Setzungen vorgenommen hätten, die letzteren darauf, daß die Orthographie nicht nur eine äußerliche Seite der Sprache sei, sondern sich in ihr Sprachwissen der Sprachteilnehmer vergegenständliche. (Ganz offensichtlich verhinderte die außerordentliche Informationsflut dieser Jahre sowie der ständige Druck, neue Informationen zu produzieren – publish or perish! (darin erschöpfte sich im wesentlichen das Leben der Hochschullehrer) – ruhig wahrzunehmen, daß diese Debatten schon geführt worden waren.)

Nüchtern betrachtet waren es jedoch ausgesprochen fruchtbare Jahre der Orthographiediskussion, wenn man auch noch das Lager der Empiriker hinzunimmt.

Diese hatten unter Einsatz gewaltiger Mengen von Forschungsgeldern inzwischen so gut wie alle orthographischen Produktionswinkel untersucht.

Ein bevorzugtes Forschungsfeld war Kommunikation unter Stress, und hier ganz besonders die eMail-Kommunikation. Spracherkennungsprogramme hatten ihre Fortschritte gemacht, aber natürlich ging es immer noch nicht ohne nachträgliche Prüfung, wofür die Zeit fehlte (s.o.). Die Folge war ein rechtes Kauderwelsch, das zwar schnell publiziert bzw. emailiert, aber nicht immer verständlich war.

In dieser Situation kam natürlich wieder der Ruf nach einer phonetischen Schrift auf, der sich insoweit durchsetzte, als Mails mit phonetischer Schreibung als Kennzeichen galten, daß ein Ausdruck weder im orthographischen Lexikon gefunden wurde noch regelhaft hergeleitet werden konnte. Ein entscheidender Schritt in dieser Hinsicht fand durch eine Initiative der Hersteller von Spracherkennungssystemen statt. Microsoft im Verbund mit Dragon Systems auf der einen und IBM mit der Via Voice Technologie auf der anderen Seite gingen eine strategische Allianz ein, um auf der politischen Schiene eine technische Lautschrift für alle Sprachen durchzusetzen – in scharfem Widerspruch zum oben erwähnten Internationalen Arbeitskreis zur Standardisierung von Nationalorthographien.

Als Vorbild der "mit einiger Übung durchaus verständlichen und überdies endlich eindeutigen Möglichkeit einer internationalen Orthographie auch für das Deutsche" (so nachzulesen in einer Petition an den bundesdeutschen PDS-Kultusminister) galt den im Auftrag der US-amerikanischen Konzerne in Deutschland politisch Agierenden die im "Wasserzeichen der Poesie" abgedruckte Ghasele August von Platens:

es likt an aenjs mäncjn cmärts an aenjs mäncjn wundj nixts
es kert an das was kraqkj kwält six ewig der gjzundj nixts
und wärj nixt das lebjn kurts das ctets der mänc fvm mäncjn ärpt
zo gäps bjklagjnswertjrjs aof dizjm waetjn rundj nixts
aenfyrmik ctält natur six her dvx taosjntfyrmik ist ir tod
es frakt di wält nax maenjm tsil nax daenjr lätstjn ctundj nixts
und wer six wilik nixt ärgipt dem ernjn lozj das im drvit
der tsürnt ins grap six rätuqslos und fült in däsjn clundj nixts
dis wisjn alj dvx färgist es iedjr gärnj iedjn tag
so kvmj dän in disjm sin hinfvrt aos maenjm mundj nixts
färgäst das oix di wält bjtrükt und das ir wunc nur wüncj zoikt
last oirjr libj nixts äntgen äntclüpfjn oirjr kundj nixts
es hvfj iedjr das di tsaet im gebj was si kaenjm gab
dän iedjr suxt aen al tsu saen und iedjr ist im grundj nixts

Ein erster Vorstoß bei der UNO – die Antragsteller beriefen sich emphatisch auf die Menschenrechte und die Charta der Vereinten Nationen (das Recht aller auf Zugang zu den geistigen Ressourcen) – lief zwar ins Leere, aber durch die wahlweise Einstellung der technischen Lautschrift anstelle eines nationalen Wörterbuches in den ab 2008 auf den Markt kommenden Diktiersystemen sorgten die Software-Riesen allein durch ihre Marktmacht für eine teilweise Einführung bei technisch progressiven Vielschreibern bzw. –diktierern.

Dieser Substandard tat seine Dienste, war aber unbefriedigend. Ebenso unbefriedigend war der Versuch einer nachträglichen theoretischen Fundierung, von Sprecherziehern und Logopäden im Verbund mit einigen Linguisten unter dem Titel "Die phonographische Methode – Schreib wie Dir der Schnabel gewachsen ist!" in Muttersprache 120, 2009/10, S.236-304, vorgestellt.

Wie jede Bewegung eine Gegenbewegung hervorruft, so auch hier. Die Puristen traten auf den Plan. Die Deutschlehrer waren hin- und hergerissen. Teils sahen sie, wie sehr ihre Schüler durch die Spontaneität des Schreibens entlastet wurden, andererseits litten sie unter dem stetig abnehmenden Empathieverhalten der Schüler und Schülerinnen.

Kurz und gut, die Situation war so, daß etwas geschehen musste, und wie üblich gingen konservative Kreise eigenartige Koalitionen mit Esoterikern ein; die progressive Partei wollte gleich alles über Bord werfen und machte sich zum Anwalt des Inhalts gegen die Form. ("Lieber etwas Gutes falsch als etwas Falsches richtig geschrieben!").

In der Gelehrtenrepublik schlossen sich zusammen, die die Orthographie als Ausdrucksmittel verstanden. Ausgang war das 50. Erscheinungsjahr der "Gelehrtenrepublik" von Arno Schmidt 2007. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt veröffentlichte eine längere Abhandlung unter der Überschrift "Natürliche Orthographie. 50 Jahre Gelehrtenrepublik". Nachdem sich der Autor lange mit der Vorbemerkung Schmidts beschäftigt hatte und sich glücklich zeigte, daß das Interworld-Gesetz Nr. 187 v. 4.4.1996 ("Über bedenkliche Schriften"), das Schmidt erwähnte, nicht zu befürchten sei, analysierte er Arno Schmidts Spielereien und wies darauf hin, daß dies nur der Anfang einer Entwicklung sei unter dem Motto: The orthography is the message.

Besonders hatte es dem Autor die folgende Passage angetan:

"[...] / Kam vornherum. Wog auf der Handfläche. Zog genießerisch zurück – : Undrieballesdurcheinanderblattkrautundstengel : ! ! ! ! :

"Fffffffff: aufhörn ! !" als wenn ich in Feuer getunkt hätte ! Und trampeln : "Aufhörnmensch !" Jetzt erst dachte ich daran, die Hände nach vorn zu nehmen ; sie warf‘s hurtig weg, Grünkraut und Jute. Hielt sich hin ( und ich arbeitete wie ein Wahnsinniger! Nur um das Brennen loszuwerden !). / ( Sie lobte mich enthusiastisch, und proponierte erneut, mich zu entführen. )

[...][...]

Und schien mir Umwege zu machen ; denn die Sonne besah uns von erstaunlich verschiedenen Seiten :?! / "Ja. – Wir sind doch sonst in‘ner Stunde da !" (Legte das Köpfchen an meine Brust. Und heulte. Zwischen Weiden, Pappeln, Ulmen und Celtis : "Du hast mir das Gefühl zum ersten Mal gemacht!" / "Nein: ich werd‘ immer dran denken!" / "Kommstu bald wieder?" / .–. / Ich sagte dann zwar "Ja." ; faltete aber bedenklich den Mund (sie schien‘s auch von Göttern gar nicht anders zu erwarten. Und wischte sich reuig=resolut, Great Expectations,21 das Gesicht an meinem ab.)"

[Arno Schmidt. Die Gelehrtenrepublik. Karlsruhe: Stahlberg Verlag 1957, S.40; in der Anmerkung 21 verweist der Übersetzer darauf, daß es sich hierbei um einen Roman von Charles Dickens, 1861, handle.]

An ihr versuchte der Autor zu zeigen, daß es einen Weg zu einer "Natürlichen Orthographie" gäbe. Äußeres und auffälligstes Zeichen sei die sprechende (sic!) Interpunktion sowie die Grammatikalisierungs- und Natürlichkeitsprinzipien folgende Getrennt- und Zusammenschreibung.

Schmidt, so der Autor, habe bereits vor 50 Jahren Grammatikalisierungstendenzen in der Schrift, die sich ansonsten als konservative Bastion zeige, vollzogen, die heute in der gesprochenen Sprache selbstverständlich und in Subvarianten der englischen schon längstens vollzogen seien. Man müsse Schmidt eher vorhalten nicht radikal genug gewesen zu sein. Das Ziel sei kommstdu; dorthin müsse sich warf‘s und in‘ner jedenfalls noch entwickeln. Sein unzweideutiger Vorschlag zielte auf Vermeidung des Apostroph, der nur längst überholte Sprachstadien anzeige ("Nostalgie-Apostroph"!).

Besonders enthusiastisch beackerte der Autor das Feld der Getrennt- und Zusammenschreibung. Nachdem die Reformer von 1996 diesem Bereich die semantische Orientierung genommen hatten und dem Schreiber zuliebe eine schematische Schreibung mit langen, in der Schule zu lernenden Listen an die Hand gegeben hatten, lag hier für Sinnsucher ein brachliegendes Feld. Wenn alles durcheinander gerieben würde, so könne in der Schrift als sinnfälligem Ausdruck des Gedankens dieses nicht getrennt erscheinen, war das für viele schlagende Argument. Eine solche Theorie war bereits am Ende des letzten Millenniums in Schulbüchern hinsichtlich der Interpunktion durch eine kleine Erzählung von Gerti Tetzner vorbereitet worden, in der die Protagonistin sich in einer Erdkundestunde weigerte in der Passage Dort fließen die in die Erde gesickerten Regentropfen unterirdisch weiter treten an einem Berghang zutage sammeln sich in Bächen und Flüssen verdunsten werden zu Wolken und fallen wieder als Regentropfen zur Erde Kommas zu setzen. Ihre Erklärung war überwältigend: Das geht doch immerzu von der Erde zu den Wolken und wieder herunter, immerzu ringsum, da passen keine Kommas dazwischen. Die Lehrerin rügte das Kind (Maxi war sie in der Erzählung geheißen) mit den Worten: Heimatkunde war vorhin! Setz dich! Die Schülerinnen, erzogen im reformpädagogischen Geist der damaligen Jahre, waren mehrheitlich auf der Seite von Maxi. (Dazu mögen sie auch nichtorthographische Gründe bewogen haben.) Das Samenkorn, von der Akademie ausgeworfen, fiel also auf einen fruchtbaren Boden. Und je mehr Natur zur sehnsüchtigen Wunschkategorie wurde, desto stärker wurde sie in Teilen gesucht, wo sie zuvor keinen Platz zu haben schien.

Die Natürlichkeitsbewegung, unter www.gelehrtenrepublik.de im Netz zu finden, mit zahlreichen Chats zu Fragen wie kommwirkommnwirkommmer oder komma hatte ihren Höhepunkt zum 100. Geburtstag Arno Schmidts am 18.1.2014. Ein Symposion in der Lüneburger Heide, auf dem zahlreiche Vorträge für eine umfassende natürliche Orthographie plädierten, brachte zahlreiche Vorschläge zum Ergötzen der Mitglieder, für die diese Woche Natur pur unvergesslich wurde. Danach aber schlief die Bewegung ein. Für die Insider war kein weiterer Höhepunkt in Aussicht zu stellen und eine Breitenwirkung musste dem Unterfangen notgedrungen versagt bleiben.

Am deutlichsten zeigte sich dies an der Diskussion der deutschen Groß- und Kleinschreibung.

Grundlage waren die Untersuchungen von M. Bock, der in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Millenniums eine Reihe von Untersuchungen vorgelegt hatte, die den gemäßigten Kleinschreibern, wie sie in der Reformkommission stark vertreten waren, größte Kopfschmerzen bereiteten. Schließlich hatte man zwar einen Vorschlag zur gemäßigten Kleinschreibung 1992 vorgelegt, zog ihn aber kleinlaut zurück und konterte 1996 mit der revidierten Großschreibung, nach der nun – Schematismus war das Prinzip der Reform! – mehr als bisher großgeschrieben wurde.

Bocks Untersuchungen zeigten, daß in der Großschreibung ein sinnvoller Gestaltungswille lag, indem im Grundsatz die Argumente von Propositionen mit einer Initialmajuskel ausgezeichnet wurden. Dadurch hatte das Auge einen Haltepunkt für das schnelle inhaltliche Verständnis. Seine Untersuchungen waren raffiniert und in einer versuchte er sogar zu zeigen, daß das Englische deutsche Lesevorteile böte, bediente es sich der deutschen Großschreibung.

Dieser Gedanke nun kam der Natürlichkeitsbewegung sehr zupass. Die Großschreibung konnte offensichtlich nicht weiter als deutsche Marotte gehandelt werden mit dem wesentlichen Zweck, Kinder zu disziplinieren, vielmehr trat ihre kognitive Steuerungsfunktion deutlich hervor. Da lag es nahe, das Bocksche Prinzip ernst zu nehmen. Ansatzpunkt war der § 55 des Amtlichen Regelwerks von 1996. "Substantive schreibt man groß." Für Substantiv hatte das Regelwerk eine operationale Definition vorgeschlagen, die im großen und ganzen darauf hinauslief nach Artikelwörtern ohne Ansehung der besonderen Verhältnisse groß zu schreiben. Die Folge war eine vermehrte Großschreibung, die ihre kognitiven Möglichkeiten unterlief.

Dagegen wurde nun ins Feld geführt, daß es nur sinnvoll sein könne, die tatsächlichen Argumente groß zu schreiben und alle anderen klein.

In einer etwas abseitig erschienenen Arbeit lief der Gedankengang so. Wir zitieren eine längere Passage:

"Stellt man die deutsche Orthographie wieder auf ihre kognitiven Beine, so muss die Prädikat-Argument-Struktur von Propositionen ins Blickfeld rücken.

Hier lohnt sich ein Blick auf verschiedene Möglichkeiten, da man verschiedene Strukturierungen vornehmen kann, von denen einige im folgenden dargestellt werden sollen, um das Prinzip zu verdeutlichen:

  1. aristotelisches Schema: P(A), das einen Satz in Subjekt und Prädikat (beide Begriffe im ursprünglichen Sinn gebraucht) teilt.

  2. Relationsschema: P (A1, A2, ...Ai, ...An)

  3. Kernproposition + "Bestimmungen"

Nach der 1. Strukturierung würde man einen Satz wie

(i) am abend melkt der bub unseres nachbarn auf der alm voll stolz seine stinkenden ziegen

propositional so strukturieren.

(ii) jeden-abend-voll-stolz-seine-stinkenden-ziegen-melken (bubunseres nachbarn)

Wenn die Argumente zu einem Prädikat mit einer Initialmajuskel geschrieben werden sollen, dann ergäbe sich aufgrund von (ii) die folgende Graphie:

(iii) Am abend melkt der Bub unseres nachbarn auf der alm voll stolz seine stinkenden ziegen

Nach der 2. Strukturierung hätte man folgendes Format:

(iv) MELKEN (bubunseres nachbarn, ziegenseine stinkenden, abend, alm, stolz)

Das hätte die Schreibung (v) zur Folge:

(v) Am Abend melkt der Bub unseres nachbarn auf der Alm voll Stolz seine stinkenden Ziegen.

Nach der 3. Strukturierung läge folgendes Format vor:

(vi) MELKENZeit: Abend Ort: Alm Modus: Stolz (bubunseres nachbarn, ziegenseine stinkenden)

Als Schreibung:

(vii) Am abend melkt der Bub unseres nachbarn auf der alm voll stolz seine stinkenden Ziegen.

Man kann die "Bestimmungen" natürlich wieder propositional auflösen:

(viii) MELKEN (bub, ziegen); MELKEN–GESCHEHEN (abend, alm, stolz); STINKEND–SEIN (ziegen) BUB–ZUGEHÖRIG SEIN (nachbar)

und kommt dann zur Schreibung (ix):

(ix) Am Abend melkt der Bub unseres Nachbarn auf der Alm voll Stolz seine stinkenden Ziegen.

Verändert man den Ausdruck stilistisch leicht und erweitert ihn:

(x) mittwoch abend melkt der bub unseres nachbarn stolz seine stinkenden ziegen. da ist er dann voll eifer und schließlich glücklich.

würde er nach dieser Analyse wie in (xi) geschrieben (bei Berücksichtigung der satzinitialen Majuskel):

(xi) Mittwochabend melkt der Bub unseres Nachbarn Stolz seine stinkenden Ziegen. Da ist er dann voll eifer und schließlich glücklich."

Im folgenden wird gezeigt, daß auf diese Art und Weise Sinn transportiert werden könnte, der in einer eher schematisch geregelten Orthographie verloren gehe.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der die vermehrten Majuskeln besonders schwer fielen, nahm sich der Sache an. Interessanterweise aber war der Artikel in der üblichen Orthographie verfasst und erst als die Redaktion, durch Leserbriefe animiert, daran ging, eine Kampagne zu starten und zu diesem Zweck selbst als vorbildlich fungieren wollte, merkte sie, da sich über die Sache leicht schreiben ließ, daß sie aber schwer anzuwenden war. Der Grund war ganz einfach. Das Schreiben brauchte zuviel Zeit – bezahlt aber wurde nach Zeilen, nicht nach Sinn. Die Schwierigkeit lag im wesentlichen darin, daß ein solches inhaltsorientiertes Schreiben außerordentlich langsam vor sich ging. Aussage für Aussage musste auf die Inhaltsstruktur hin überprüft werden. Auf die Frage, welche Wörter man groß schreibe, war die unbefriedigende Antwort: Das hänge von der betreffenden Aussage ab. Der Sinn von Aussage A offenbare sich mehr in der aristotelischen Schreibeweise, der der Aussage B eher im Relationenschema usw. Alle Arbeit wurde also dem Schreiber aufgehalst, der Leser war der ausschließliche Nutznießer. Eine solche Arbeitsteilung konnte sich schwer durchsetzen.

"Ein solcher Sachverhalt schreit", so hieß es am Ende der Diskussion, "geradezu nach festen Formaten auf der Basis der Ausdrucksmittel. Danach werden die Wörter, deren Hauptfunktion es ist, die Argumente der propositionalen Struktur zu bilden, groß geschrieben. Einsichtigerweise wird allerdings nicht der ganze Ausdruck groß geschrieben, sondern nur der Kern mit einer initialen Majuskel markiert. Genauer gesagt: Jeder Kern einer Substantivgruppe wird mit einer initialen Majuskel markiert. Entscheidend ist nun nicht mehr die Einzelanalyse der Aussage, sondern ein schematisches Verfahren.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mag in einem konkreten Fall zwischen

der ärztliche Rat

und

der Rat des Arztes

kein Unterschied bestehen, so kann die unterschiedliche Schreibung auf der Grundlage der Substantivgroßschreibung zum Ausdruck bringen, daß der zweite Ausdruck im Gegegensatz zum ersten eine "Argument-Potenz" hat: der Rat meines gegenwärtigen Arztes. Dies entspricht den beiden Analysen:

Die Substantivgroßschreibung bringt damit auch ein höheres Maß an grundsätzlicher Systematik (wenn auch nicht Systematik im konkreten Fall), nämlich kategorial Gleiches gleich zu behandeln, mit sich. Ausdrücke werden auch da groß geschrieben, wo sie konkret gar nicht die Aufgabe haben, Argument innerhalb einer propositionalen Struktur zu sein, aber grundsätzlich eine "Argument–Potenz" haben.

Diese Regelung bringt einen großen Vorteil für den Schreiber, denn er muss nun nicht mehr Ausdruck für Ausdruck die propositionale Struktur ermitteln, sondern kann alle Substantive groß schreiben. Der Nachteil für den Leser ist evident. Er wird nicht auf den je besonderen Text hin orientiert, sondern auch auf mögliche Argumentstrukturen überhaupt."

Noch auf einem weiteren Feld flammte kurzzeitig ein Nebenkriegsschauplatz der Natürlichkeitsbewegung auf. Auch in der Zeichensetzung forderten eine Gruppe vehement einen Paradigmenwechsel weg von der Augen- hin zur Mund- und Ohrenphilologie oder – um es in den Worten Maxi Tezners, einer ihrer Wortführerinnen zu formulieren – weg von der Hirn-, Wort- und Syntaxsteuerung und hin zur Herz-, Atem- und Stimmsteuerung der Zeichensetzung.

Getreu dem Wort Ilse Middendorfs, der Ahnfrau deutscher Atemtherapeutinnen: "Atem hat eine lebenstragende Funktion. Atmend können wir unseren Leib kennenlernen. Atem kann erfahren und erlebt werden. Er teilt sich über das Wort nur eingeschränkt mit", bemühte sich Maxi Tetzner mit einer Gruppe Gleichgesinnter zumindest die Zeichensetzung als ursprünglich prosodisches Element der Schrift wieder ins alte Recht zu setzen.

Das Ziel der Atemtherapie "besteht darin, den Menschen in seinen äußeren sowie inneren Persönlichkeitsanteilen zu erreichen. Er lernt über den erfahrbaren Atem, über beide Ausdrucksmöglichkeiten freier zu verfügen. Dabei kann zeitweise der eine oder andere Aspekt überwiegen. Die Integrationskräfte des Atems sind jedoch so stark, daß die Klientin im Verlauf der Therapie bzw. der Arbeit mit dem erfahrbaren Atem einen Mittenzustand erfährt, der sie erkennen lässt, wie eine überbetonte Identifikation mit Teilen ihrer äußeren Person diesen Mittenzustand stört." (So eine Aussage der Ilse Middendorf-Institute, von Maxi Tezner schamlos für ihre Zwecke ausgenutzt). Um nun äußere – und jeder geschriebene Text ist Entäußerung – und innere Person in eine für den Kommunikationspartner erkennbare und diesem mitteilbare Harmonie zu bringen, forderten sie eine die natürliche Sprechmelodie und die natürlichen Sprechpausen nachbildende Zeichensetzung. Die "inneren Linien" des Gedankens, der sich im Wort "entäußert, in Welt entlassen wird", sollen in der Zeichensetzung nachgezeichnet werden.

Einige auf Zeitstellen habilitierende Nachwuchswissenschaftlerinnen, die durch die zunehmende Orchideeisierung der germanistischen Mediävistik verunsichert um ihre Karriere bangten, schlossen sich im Sommersemester 2008 dieser Bewegung an, die sich als feministisch verstand und nun auch auf anderen Gebieten der Grammatik gegen die ahistorische, maskuline "Macho-Syntax" zu Felde zog. "Zurück in die Zukunft" war das Motto dieser Bewegung, die sich auf die Geschichte der Zeichensetzung bezog und die Zeit des Umbruchs vom 15. in das 16. Jahrhundert zum Vorbild nahm. Sie forderten die Wiedereinführung der Virgeln / (sie tauchen im obigen Arno Schmidt-Ausschnitt bezeichnenderweise auch auf!) / und zum Teil Doppelvirgeln // welche die frühen Drucker / in die durch Punkte abgeschlossenen Textabschnitte / zur besseren Lesbarkeit / an vom sinnentsprechenden Vorlesen geforderten Atemeinschnitten setzten. Verdeutlicht wurde das Prinzip an den frühen Druckschriften Luthers. Als Beispiel wurde immer wieder ein Ausschnitt aus Luthers Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation" aus dem Jahr 1520 zitiert:

"Die Romanisten haben drey mauren/ mit großer behendickeit/ vmb sich zogen/ damit sie sich bißher beschutzt/ das sie niemant hat mugenn reformierenn/ da durch die ganz Christenheit/ grewlich gefallen ist."

Der Nährboden war dieser Bewegung bereitet worden, weil selbst die Deutsche Presseagentur am Anfang des Jahrhunderts ihr zunächst 1999 beschlossenes Festhalten an der alten Zeichensetzung aufgab. Da die Zeichensetzung überwiegend nicht von den Konvertierungs- oder Rechtschreibprogrammen erfasst werden konnte und die meisten Journalisten aus purer Unsicherheit der Komma-Faulheit frönten, d.h. die §§ 73 ff des Regelwerks von 1996 so auslegten, möglichst wenig Kommas setzen zu müssen – das Semikolon (§ 80) war den meisten von Ihnen ja schon zuvor gänzlich unbekannt –, waren viele Sätze ungegliedert und bei leisem Lesen schwer verständlich.

Einige Literaten sympathisierten mit dieser Reformbewegung, und vor allem im Kreis von Lyrikerinnen hat sich die Notierung prosodischer Elemente mit Virgeln und einigen zusätzlichen diakritischen Zeichen bis in unsere Tage einen Platz gesichert (man vergewissere sich etwa durch einen Blick in die Vierteljahrsschrift "Sappho"). Nach einer Rede des greisen Günther Grass auf der Frankfurter Buchmesse 2009 – bei einem Empfang aus Anlass des 10. Jahrestages der Literatur-Nobelpreis-Verleihung –, auf welcher er ein Loblied auf das Barock und die Arbeit der Sprachgesellschaften anstimmte und zugleich den barocken Gebrauch sämtlicher Satzzeichen anmahnte, besannen sich die Agenturen und Printmedien eines Besseren. Mit Unterstützung des Deutschen Volkshochschul-Verbandes wurde eine groß angelegte Weiterbildungs-Kampagne zur Rettung der deutschen Zeichensetzung angeleiert, an welcher sich auch der Deutsche Journalistenverband beteiligte: Die Kommas vermehrten sich in der Folge, Semikolon, Gedankenstrich und Doppelpunkt emanzipierten sich aus dem Mauerblümchendasein, und die atemorientierte Zeichensetzungsbewegung "Zurück in die Zukunft" verebbte mangels Medien-Zuspruchs; die Deutsche Virgeln-Vereinigung e.V. mit Sitz in Fulda ist ein letzter Reflex der kurzen aber heftigen Revolte.

31.12. 2019: Resümee

Wenn wir die vergangenen 25 Jahre Revue passieren lassen, so lässt sich feststellen, daß auch das Gebiet der Orthographie nicht nur die Zeitströmungen aufnahm, sondern auch den wissenschaftlichen Zeitgeist widerspiegelt. Eine Gruppe von Linguisten nahm an der ganzen Diskussion überhaupt nicht teil, da entsprechende Signale aus Massachusetts nicht zu vernehmen waren und sich der Gegenstand in ein universalgrammatisches Paradigma nicht schicken wollte. Anderen war der Gegenstandsbereich wegen seiner Nähe zur Schule nicht rein genug. Von der geführten Diskussion wurde manches in den Medien aufgenommen, im wesentlichen aber waren es eher kurze Strohfeuer. Die Situation heute ist so, daß es neben der Schulorthographie eine Reihe von Suborthographien gibt, die sich mehr oder weniger gut behaupten können. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch unterstützt, daß man die Emphase des Jahrhunderts des Kindes, wie das letzte genannt wurde, längst hinter sich gelassen hat. Niemand glaubt mehr ernsthaft, daß man in der Schule für das Leben lernen würde, vielmehr lernt man eben für die Schule, verbringt also einen Lebensabschnitt in dieser Institution, um sich dann in anderen zu bewähren (oder auch nicht). Daß eine andere Institution anderes verlangt, gehört zu den Selbstverständlichkeiten unserer partikularisierten Gesellschaft. Längst haben sich daher Institute (und auch die Volkshochschulen) daran gemacht, den Wechsel in sog. multikulturellen Swinger-Workshops ("warme Socken und Decken sind mitzubringen"!) zu lehren und selbst – den Schlagworten vom lebenslangen Lernen und den lernenden Organisationen Tribut zollend – zu lernen ("Fit for change!"). Man erwartet heute nicht nur von Spitzenkräften, daß sie mehrere Sprachen sprechen, sondern auch mehrere Orthographiestandards beherrschen. Dies geht solange gut, als die Abweichungen sich in Grenzen halten. Empirisch kann man feststellen, daß heute die 1996 etablierte Norm am ehesten geschrieben wird. Sofern Neuerungen auftreten, gehen sie eher hinter diesen Standard auf die 1901 verfasste Konvention zurück.

Zwar ist die deutsche Orthographie nicht identitätsbildend geworden wie andere Regionalismen, sie war aber stark genug, sich gegen taiwanesische Keyboard-Normierungen zu behaupten.

Die Varianz ist geringer als man im letzten Jahrhundert anzunehmen bereit war. Erhebliche Schreib- oder Leseprobleme sind nicht bekannt. Amtliche Revisionen des Regelwerks erübrigen sich daher. Der Weg, von der Präskription zur Deskription des Gebrauchs voranzuschreiten, hat sich bewährt. Sich herausbildende Substandards sind entweder von relativ kurzer Dauer oder weichen so gering von den allgemeinen Konventionen ab, daß sich ein reglementierendes Vorgehen verbietet.

Rückblickend ist überhaupt festzustellen, daß der obrigkeitsstaatliche Zugriff auf das gemeinschaftliche Instrument des wechselseitigen Verkehrs, verbunden mit der Mißachtung des ausgelösten Kulturschocks, wie dies 1996ff der Fall war, der vielleicht größte Fehler damals gewesen ist. Andererseits muss man den Reformern von damals danken, daß sie die Orthographie auf eine Art und Weise in die Diskussion gebracht haben, wie dies in der Folgezeit nicht mehr der Fall war – oder waren die Orthographie-Diskussionswirren des jeweils letzten Dezenniums der letzten beiden Jahrhunderte nur quasi psychosomatische Ethno-Symptome der jeweiligen inneren Einigungsqualen der Deutschen? Sozusagen: typisch deutsch!

 

Nachbemerkung:

Die Berichterstatter haben bewusst darauf verzichtet, ihre individuellen Standards anzugleichen und zur Rechtschreibprüfung ihr jeweils individuelles orthographisches Benutzerlexikon verwendet. Da sie beide die eigene orthographische Ausdrucksweise zu ihren Individualrechten zählen, versagte sich ein solches Vorgehen von selbst.

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
Kontakt: mailto:siegfriedcarl@hotmail.com
letzte Änderung: 22.04.00

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