Kanzone - Lexikalisches
Kanzone im Lexikon –
statt eines Nachworts
„Romanischen
Vorbildern folgt auch die klass. Strophe des Minnesangs, die Kanzone. Sie ist
dreiteilig: zwei in Versbau u. Kadenz gleiche Teile, die ›Stollen‹, schließen
sich zum ›Aufgesang‹ zusammen, von dem sich der ›Abgesang‹ deutlich
absetzt:
Ganzer
froiden wart mir nie sô wol ze muote
6w a
mirst geboten, daz ich singen muoz.
5m b
sælic sî diu mir das wol verstê ze guote!
6w a
mich mant singen ir vil werder gruoz.
5m b
diu mîn iemer hat gewalt,
4m c
diu mac mir wol trûren wenden
5w d
unde senden froide manicvalt.
5w c (2d-3c)
(Walther von der Vogelweide, 109,1)
Bei der Ausgestaltung der beiden Stollen u. des Abgesangs ist der
schöpferischen
Phantasie des einzelnen Sängers u. Dichters kaum eine Grenze gesetzt; aber es
haben sich doch gewisse Strukturen herausgebildet, die beliebte Variationsmuster
anboten. Häufig wiederholt der Abgesang einen Reim aus dem Aufgesang oder den
Reim samt dem Metrum eines Verses oder das Metrum (u. die Reime) eines Stollens
oder eines Stollenteils.“
Walther Killy:
Literaturlexikon, Bd. 14, S. 82 ff. Metrik und Versgeschichte.
Aus
der Provence und der Troubadourlyrik stammend, fand die Kanzone nach der mhd. Blüte
und ihrer Ausgestaltung in Italien, v.a. durch Dante und Petrarca, in der
Neuzeit wieder einige Verbreitung bei den deutschen Romantikern, wie August
Wilhelm Schlegel, auch August Graf von Platen, Friedrich Rückert, Joseph
Christian von Zedlitz, Ludwig Bechstein, Franz Dingelstedt und Max Waldau.
Sieben
Mal wurde bei dieser WM zu Beginn eine der bekanntesten deutschen Kanzonen des
19. Jahrhunderts gesungen: die dritte Strophe von Heinrich Hoffman von
Fallerslebens „Lied der Deutschen“. Neben der Haydn’sche Melodie, mit
der Kanzonen-charakteristischen Wiederholung zu Beginn, hat Hoffmann nicht nur
im Inhalt vielfältige Anklänge an die mittelhochdeutsche Lyrik (v.a. Walthers
von der Vogelweide „Ir sult sprechen willekomen“) sondern auch die
Kanzonenstrophe als bestimmendes Formelement eingebunden.
Die
vorliegenden, den skizzierten Traditionen verpflichteten Kanzonen arbeiten als
Einzelstrophen mit stets vergleichbaren Stollen (mhd. Vierheber der ‚staufischen
Klassik’ mit umarmendem Reim, außen weiblich, innen männlich) und sehr
freien Abgesängen - mit minimalen Reimanklängen an die Stollen. Füllungsfreiheit
bei vorherrschender regelmäßiger Alternation und einigen wenigen
daktylischen Versgängen sowie einige inhaltlich begründete markante
Enjambements (auch zwischen Auf- und Abgesang) sind weitere formale
Besonderheiten.
Der
Leser bzw. die Leserin mag selbst entscheiden ob diese in schneller Folge
entstandenen Kanzonen formal und inhaltlich dem durch die Tradition gestellten
Anspruch Genüge leisten.