Heilgymnastik

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Ludwig Seeger

Ueber Turnen und Heilgymnastik mit besonderer Beziehung auf das weibliche Geschlecht.

Die Natur in ihren schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffernschrift ist uns im moralischen Gefühl verliehen.

Kant

 

"Eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe!" Wüßten wir uns alle im Besitz dieses hohen, schönsten Guts, wie glücklich wären wir, welch lieblicher Spielplatz für große und kleine Kinder wäre diese Welt, wie hellenisch wäre sie! "Eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe!" Dieß ist im Grunde das letzte Ziel aller Erziehungskunst, aller Heilkunst. Man hört, zumal in diesen Tagen, wo die linden Lüfte wehen und in die Bäder, in die Berge, zu Kaltwasser= und Luftkuren hinauslocken, so viel von Naturheilanstalten, von Heilgymnastik und andern heilsamen Erfindungen der Neuzeit reden. Die Aufmerksamkeit, welche die Heilgymnastik sowohl als das Turnen überhaupt, insbesondere das Turnen der Mädchen, in neuerer Zeit in erhöhtem Maße für sich in Anspruch nimmt, mag den Versuch nicht ungerechtfertigt erscheinen lassen, an der Hand der Mittheilungen eines Fachmanns, die uns zur Verfügung gestellt worden, und der Anschauung, die wir uns selbst verschafft halben, die Sache einer kurzen Besprechung auch an dieser Stelle zu unterziehen.

Moriz Cloß in seiner "Weiblichen Heilgymnastik,"* im Kapitel: "die Gesundheit des weiblichen Geschlechts unter den Einflüssen von Erziehung und Sitte," unter anderm: "Das der Modeherrschaft unterworfene Weib lernt nur zu sehr und zu bald die Stimme der Natur in Bezug auf das physische Bedürfniß der täglichen Körperbewegung überhören, und seine vollkräftige Gesundheit ist daher fast ein Ideal, welches sich doch bei den reichen und bildsamen Naturanlagen der Frauen so leicht verwirklichen ließe. Die Pädagogik und die Diätetik kommen in der gemeinschaftlichen Aufgabe für Verwirklichung dieses Ideals zusammen, indem sie nicht bloß dazu beitragen sollen, das Menschengeschlecht von verjährten Vorurtheilen zu befreien, sondern auch die Mittel anwenden zu lehren, die zur Verbesserung und Erhaltung der Einzelnen, wie der Gesammtheit dienen. Wenn gegenwärtig fast aller Orten Institute für Heilgymnastik und Orthopädie eröffnet werden und vollauf beschäftigt sind, um die Verkrüppelungen und Verkrümmungen des weiblichen Körpers mühsam und künstlich durch gymnastische Uebungen zur natürlichen Wohlgestalt zurückzubilden, so sind das sichere Zeichen von den Mängeln unserer weiblichen Erziehung, und es liegt dann der Gedanke sehr nahe, eben durch die Gymnastik eine naturgemäße Entwicklung des erschlafften weiblichen Körpers zu unterstützen und dadurch ein in allen Organen und Kräften durchgebildetes weibliches Leben als die reinste Quelle der weiblichen Gesundheit herzustellen."

Was versteht man nun eigentlich unter Heilgymnastik? - Heilgymnastik (auch medicinische Gymnastik, Kinnsitherapie genannt) ist Heilung von Krankheiten durch Körperwegungen, durch Muskelthätigkeit überhaupt. Es ist historisch nachgewiesen, daß die Methode, durch verschiedene Körpermanipulationnen Krankheiten zu heilen, schon im hohen Alterthum da und dort geübt wurde. So wissen wir von Plinius, daß die Betten der Kranken in die freie Luft gehängt und durch eine wiegende Bewegung ihre Schmerzen gelindert wurden, und Strabo erzählt von den Indianern, daß dieselben so sehr für die Reibungen des Körpers mit leichten elfenbeinernen Striegeln eingenommen seyen, daß selbst die Könige, während ihnen die Klagen des Volkes vorgetragen wurden, sich mit diesen Werkzeugen behandeln. Das Bürsten, Striegeln und Kneten der Muskeln nach dem Bade ist heute noch bei allen Orientalen Sitte.

Diese Methode, Krankheiten durch Erregen der Muskelthätigkeit, durch Manipulationen am Körper des Leidenden zu behandeln, war längere Zeit im Mittelalter in Vergessenheit gerathen. Erst im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurde sie wieder von einigen Aerzten in Anregung gebracht. Wir nennen nur den berühmten Sydenham. Doch war es erst im letzten Jahrzehend dieses Jahrhunderts, wo es dem Schweden Ling gelang, der Gymnastik eine neue, man könnte sagen wissenschaftliche Gestalt zu geben.

Ling ist im Jahr 1776 geboren; er studirte Theologie, machte später als Freiwilliger mehrere Feldzüge mit, bereiste dann Frankreich, England, Deutschland, in welch letztem Lande er namentlich für sein System der Gymnastik vielfache Materialien sammelte. Im Jahr 1805 wurde er Fechtmeister und hielt zugleich Vorlesungen über Geschichte und Dichtkunst. Später wurde er Direktor des schwedischen Centralinstituts für Gymnastik und starb im Jahr 1839.

Ling stellte einen Cyklus von Bewegungen auf, durch welche die vollste Harmonie zwischen allen Theilen des Körpers hergestellt werden sollte; er bildete sich eine Lehre von den Körperbewegungen in Uebereinstimmung mit den Gesetzen, die den menschlichen Organismus beherrschen. Ihm war es nicht so sehr darum zu thun, Kraft= und Schaustücke, welche beim deutschen Turnen, wie es seit Vater Jahn getrieben wurde, nur zu sehr sich in den Vordergrund gedrängt hatten, zu Tage zu fördern; sein Streben ging vorzugsweise dahin, zu erforschen, welche physiologische Bedeutung die zu erlernende Turnfertigkeit für das organische Leben des Körpers habe. Ling betrachtete die organisch harmonische Ausbildung des menschlichen Leibes als einen wesentlichen Bestandtheil der Jugenderziehung und der Volksbildung.

Das System, das Ling aufstellte, umfaßt dreierlei verschiedene Arten von Bewegungen, die aktiven, die passiven und die halbaktiven oder duplicirten, wovon die beiden ersteren durch ihn theils eine Erweiterung, theils wesentliche Verbesserungen erhielten; die letzteren aber, die duplicirten Bewegungen, sind es, welche vorzugsweise durch ihn in Aufnahme kamen. Sie sind es gerade, welche dem schwedischen System das eigenthümliche Gepräge verleihen, und wenn man im gewöhnlichen Leben von Heilgymnastik spricht, so hat man ganz besonders diese neue Art von gymnastischen Bewegungen im Auge.

Bei diesen Turnübungen treten zwei oder mehrere Uebende in Wechselthätigkeit zu einander, und die Ausführung derselben wird durch gegenseitige Kraftanstregung erschwert. Der Uebende oder Kranke vollführt eine gewisse Bewegung und hat dabei einen je nach Umständen größeren oder geringeren Widerstand, der von einem andern, dem Gehülfen oder Gymnasten, seiner Mukelthätigkeit entgegengesetzt wird, zu überwinden. Oder der Uebende macht den Widerstand, der dann von dem Gehülfen zu überwinden ist, wobei es, wie sich von selbst versteht, nicht etwa auf ein wechselseitiges Prüfen und Messen der Kräfte, sondern auf eine allmählig zunehmende Steigerung der Gliederkraft ankommt. Bei diesen Bewegungen nimmt man an, daß sie eine Ausdehnung der Muskeln und sehnigen Häute zur nächsten Folge haben, wodurch ein größerer Zufluß von Pulsaderblut und eine größere Absonderung von Plasma oder Bildungsstoff herbeigeführt werde. Es ist keine Frage, daß diese Bewegungen, die in einem bestimmten präcisen Rhythmus, dem jedesmal eine Pause folgt, und die mit Anfangs schwächerer, dann sich steigernder und zuletzt wieder abnehmender Kraftanstrengung ausgeführt werden, der Eigenthümlichkeit des Krankheitsfalles, dem Alter, der Constitution des Kranken leicht anzupassen sind, und sich dadurch noch ganz besonders auszeichnen, daß eben die dabei im Auge behaltene Richtung der Muskelthätigkeit eine mehr determinirte, eine auf bestimmte Muskeln oder vielmehr Muskelgruppen gerichtete ist, durch welche die individuelle Willensthätigkeit des Patienten in ausgezeichneter Weise in Anspruch genommen wird.

Außer diesen duplicirten Bewegungen sind noch die aktiven und die passiven zu besprechen. Bei den passiven verhält sich der Patient ganz unthätig, während der Gymnast, der Arzt oder Gehülfe einzelne Glieder mit Klopfungen, Beugungen, Rollungen, Erschütterungen, Hackungen u.s.w. bearbeitet. Ein großer Theil derselben war schon seit langer Zeit sattsam bekannt und bildete einen Theil der Volksmedicin, einige derselben wurden aber erst von Ling für Kurzwecke benutzt. Durch sie wird theils eine rein mechanische, die Lage und Form der Theile verbessernde Wirkung erzielt, theils dienen sie zur Lösung stockender Säfte und zur Rückbildung von Ausschwitzungen, oder wirken verschiedentlich anregend auf die Nervenbahnen.

Was die aktiven Bewegungen, die willkürlich mit oder ohne Apparate und Geräthschaften ausgeführten Bewegungen, anbelangt, so finden diese im System von Ling keine ausgedehnte Anwendung. Manche derselben lassen sich allerdings für medicinische Zwecke mit großem Nutzen verwerthen; einen ziemlichen Theil derselben aber trifft ganz entschieden der Vorwurf der Langweiligkeit, und trotz ihrer angestrebten, auf Anatomie und Physiologie gegründeten Wissenschaftlichkeit wird die schwedische Gymnastik als Erziehungs= und Bildungsmittel nie mit unserem deutschen Turnen in die Schranken treten können. Indessen gingen einzelne deutsche Vertreter der schwedischen Gymnastik so weit in ihrer Begeisterung für dieselbe, daß sie die Unterdrückung unseres deutschen Turnens als eine sittliche Nothwendigkeit angesehen wissen wollten.

Es ist nicht zu leugnen, daß die deutsche Turnkunst eine Zeit lang im besten Zuge war, durch Ueberschreitung ihrer Grenzen und des natürlichen Maßes einer angemessenen Körperübung in eine Schule für Akrobaten und Athleten auszuarten, und es war deßhalb ein gewiß nicht gering zu schätzendes Verdienst der schwedischen Schule, die Aufmerksamkeit auf eine genaue Berücksichtigung des menschlichen Organismus selbst und seines Verhaltens zu der ihm auferlegten Thätigkeit, auf die physiologischen Wirkungen der Turnübungen hinzuweisen.

Aber wenn auch diese wissenschaftliche Seite beim deutschen Turnen bisher übersehen wurde, so ist doch wohl zu bedenken, daß es Aufgabe der praktischen Turnkunst ist, die körperlichen Anlagen zur Fertigkeit in den natürlichen Verrichtungen auszubilden, welche das Leben fordert. Jede Uebertreibung in der Folgerichtigkeit der Bewegung und jedes kurzsichtige Haften an einzelnen praktischen Zwecken wird die Lust am Turnen tödten und den Erfolg lähmen. Das Turnen ist eben aus dem natürlichen Drange nach freier Bewegung entstanden, welche in der Natur des Organismus und in den natürlichen Verrichtungen Maß und Richtung, aber keine absolute Schranke findet. Es ist deßhalb eine Einseitigkeit und ein wissenschaftlicher Rigorismus, wenn diese fröhliche Kunst zu einer abstrakten Muskellogik erhoben wird. Die vorwiegend wissenschaftliche Auffassung des Turnens nach dem Ling'schen System wird demselben ohne Zweifel seine Bedeutung als medicinische Heilanstalt sichern, nicht aber in gleichem Maße fruchtbringend für die Erziehung und die Schulen werden, denen wir eine frische und fröhliche, allerdings aber auch wohlgeordnete und nutzenbringende Turnkunst wünschen müssen. Es ist wahrlich dringende Pflicht, den Eifer für die Turnkunst immer wieder wach zu rufen in einer Zeit der Erschlaffung und Entnervung, einer wahren Körper= und Geistesabgeschlagenheit.

Otto Heinrich Jäger weist in seinem Buche: "über die Gymnastik der Hellenen in ihrem Einfluß auf's gesammte Alterthum und ihre Bedeutung für die deutsche Gegenwart," mit klaren Zügen nach, daß sie es hauptsächlich war, welche das "gottgeliebte glückliche Volk der Schönheit und Kunst" zu seiner eminenten Höhe emporschwang. Die tiefe, weit greifende Bedeutung der hellenischen Gymnastik liegt in der vollen freien Anerkennung des menschlichen Körpers als eines schlechthin berechtigten Organismus und in der Uebernahme seiner instinktartigen Entwicklung in die leitende, veredelnde Hand des kunstsinnigen, freien, bewußten Geistes, hervorgequollen und liebend getragen von der innigsten Versöhnung der menschlichen Freiheit mit den weisen Absichten und Gesetzen der Natur und beseelt von reinem, sittlichem Selbstvertrauen. Lucian läßt Solon zum Scythen Anarcharsis die Worte sprechen: "Es ist uns Hellenen nicht genug, jeden so zu lassen, wie ihn die Natur geschaffen; sondern wir bedürfen für jeden der gymnastischen Bildung, damit das von Natur schon glücklich Geschaffene noch um vieles besser, die schlechte Anlage aber veredelt werde".

Die Gymnastik erfaßt, weil sie nach dem reinen Gesetze des menschlichen Organismus erfolgt, den Körper harmonisch in strenger natur= und begriffsmäßiger Gliederung und hebt ihn ganz und stetig empor zu seiner sinnlichen Vollendung und sittlichen Charakterprägung. Der Hellene erreichte durch sie einen gewissen, für alle andern Zeiten unendlich hohen Grad vollkommen edel schöner und sittlich freier Bildung und steht so vor uns als ein Ideal; an jeder Linie erkennen wir die Herrschaft des freien, kunstsinnigen, ächt menschlichen Geistes. Mit Einem Wort, die freie, naturgemäße, umfassende Kunstschöpfung des sinnlichen Menschen durch den bewußtvollen, mit den weisen Absichten der Natur versöhnten Geist ist die Seele der hellenischen Gymnastik. Solon sagt weiter bei Lucian: "Gegenüber den im Schatten verkommenen weißen Barbarenkörpern mit träger Wohlbeleibtheit oder blasser Magerkeit, zitternd und weichlich zerfließend und schlotternd, sind die hellenischen röthlich und von der Sonne in's Braune gefärbt; mannhaft von Ansehen, zeigen sie die Fülle des Belebten, Warmen, Männlichen. Wie diejenigen, welche den Weizen worfeln, so thun unsere Gymnasten mit den Leibern; Spreu und Hülsen blasen sie weg, die reine Frucht scheiden sie aus und bringen sie zu Haufen und bewahren sie sorglich."

Die Gymnastik der Griechen bestand hauptsächlich in dem "Pentathlon" (dem "Fünfwettkampf"), das folgende Uebungen: den Lauf, Scheibenwurf, Sprung, das Speerwerfen und den Ringkampf begriff. Diese fünf Turnübungen umfaßten bei den großen Nationalfesten der Hellenen in Olympia, Nemea etc., in Folge alter Gesetze, die ganze Gymnastik, und mit diesen wenigen Uebungen bildete sich die ganze Schönheit der Hellenen heraus, so daß Aristoteles sagen konnte: diejenigen, welche jenen fünf Uebungen ausschließlich obgelegen und in ihnen Festpreise errungen haben, seyen die schönsten Menschen gewesen. Aber es waren nicht nur die Jünglinge und Männer, welche Gymnastik trieben, auch die Jungfrauen waren in Sparta durch Sitte und Gesetz zu körperlichen Uebungen verpflichtet.

Niemand kann es einfallen, der Einführung der altgriechischen Gymnastik in jetziger Zeit, bei unsern gegebenen Verhältnissen, das Wort zu reden. Denn abgesehen von den sonstigen, der Sache entgegen stehenden Schwierigkeiten, haben wir an der guten deutschen Turnkunst ein hinlängliches Ersatzmittel, das ganz dazu geeignet ist, mit unserer Bildung und Sitte und unsern Anforderungen an das Leben in Einklang gesetzt zu werden.

Nachdem die Gymnastik bei den alten Deutschen in ziemlich roher Gestaltung aufgetreten, im Mittelalter die Turniere eine eigenthümliche poetische Richtung angenommen hatten, verkümmerte in Folge einer einseitigen, dem praktischen Leben abgewandten und vielverbreiteten Richtung der Geister und des heiligen Nimbus, den die Ascetik, die Entsagung, Kasteiung, Abtödtung des Fleisches um sich verbreitete, den Sinn für leibliche Uebungen, da man die Fülle körperlicher Gesundheit vielfach für ein Hinderniß der Sittlichkeit ansah. - Nachdem sie durch die Reformation, besonders durch Luther entschieden befürwortet, wiederum in Aufnahme gekommen war, fand sie späterhin in Rousseau einen eifrigen Verfechter und erhielt gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in dem sogenannten Philanthropin in Dessau unter Basedow eine praktische Durchführung für pädagogische Zwecke. An die Namen Gutsmuths und Pestalozzi knüpfen sich dankbare Erinnerungen wegen ihrer eifrigen Bemühungen um die Gymnastik; aber ein Mann ist es hauptsächlich, der ein allgemeines nationales Interesse für sie zu erwecken wußte, Friedrich Ludwig Jahn, der leibliche Repräsentant, hie und da freilich auch die Carrikatur urdeutscher Sitte und Natur nach Gestalt, Sprache, Kleidung. Seine Absicht war, die Knaben und Jünglinge zu kräftigen deutschen Männern zu bilden, damit sie deutsche Sitte und Eigenthümlichkeit liebgewännen und bereit wären, das Vaterland zu vertheidigen und die Nationalität aufrecht zu erhalten. Unter ihm blühte (in Berlin) das Turnwesen in neuer Frische; aber das kecke Treiben der Turnjugend erregte Verdacht bei der Regierung, Jahn wurde bei Gelegenheit des Sandschen Attentats gefänglich eingezogen und die Turnplätze geschlossen, und erst in den vierziger Jahren sehen wir fast überall wieder Turnanstalten entstehen.

Jahn benutzte die Turnkunst mehr zu nationalen Zwecken, während ihm die wirkliche Durcharbeitung des Körpers im Ganzen ferner lag. Ein rationeller Turnunterricht verlangt eine zweckmäßige Anwendung der Mittel mit Rücksicht auf die Eigenthümlichkeiten des menschlichen Leibes; ein System der Gymnastik muß nothwendig auf den Menschenorganismus gegründet seyn, welcher den Maßstab zur Anordnung wohldurchdachter gymnastischer Einwirkungen und Uebungen abgeben muß. Denn nicht in der Virtuosität der Kraft und Gewandtheit ist die Hauptsache zu suchen, nicht in jenen brodlosen Künsten, wodurch einzelne hervorragende Turner bei den Zuschauern die Wirkung des Erstaunens hervor brachten. Die Turnkunst mußte dadurch in den unliebsamen Ruf einer Gauklerkunst kommmen, während doch in der That nur das Schöne und Nützliche angestrebt werden sollte.

Eine wesentliche Umänderung des ganzen Turnwesens, wie es nach den hauptsächlichsten Grundzügen noch jetzt besteht, wurde in neuerer Zeit durch Adolf Spieß, jetzigen Vorstand des Turnwesens in Darmstadt, erzielt. Er fand, daß man fälschlicherweise hauptsächlich auf solche Uebungen Bedacht genommen hatte, welche an künstlichen Vorrichtungen in ungewöhnlichen Lagen des Leibes auszuführen sind, auf die sogenannten Gerätheübungen, während doch die vornehmlich zu berücksichtigen waren, welche sich mit der turnerischen Entwicklung des Leibes an sichwährend der gewöhnlichen Zustände desselben beschäftigen, nämlich die sogenannten Freiübungen, die oft gerade die schönsten und bedeutendsten sind, wodurch einer allseitig bildenden Turnkunst erst die rechten Mittel an die Hand gegeben werden. Er verband mit diesen Freiübungen die sogenannten Ordnungsübungen, die ihre große pädagogische Bedeutung darin haben, daß der Einzelne zum Bewußtseyn der Gesammtheit, der gemeinsamen Uebung und Handlung gebracht wird, und in dem Bestreben, die Gemeinkraft zu unterstützen und dem Ganzen sich einzuordnen, wesentlich in der Ausbildung seiner Leibes= und Geisteskräfte gefördert wird. Durch diese einfachen Uebungen erzielte Spieß eine harmonische Bildung des Leibes. Dadurch daß sie den Einzelnen geistig und leiblich erfassen, machen sie den Turnenden fähig, die Totalität der menschlichen Kräfte an sich selbst darzustellen. Eben durch dieß ist das Turnen geeignet, in einen Bund mit andern Künsten zu treten, wie die altgriechische Gymnastik im engsten Zusammenhang mit der Musik, Orchestik und Dichtkunst stand. Namentlich ist es die Musik (besonders im Sinn der Alten, die darunter "schöne Künste und Wissenschaft" überhaupt verstanden), welche eine natürliche Verbündete der Turnkunst abgibt. "Die beste Gymnastik," sagt Plato, "ist die Schwester der reinen und einfachen Musik. Indem jene dem Leibe Gesundheit, diese der Seele Selbstbeherrschung gibt, so machen sie beide eine vollständige Bildung aus. Die bloß Gymnastik (körperliche) treiben, werden zu rauh, die bloß Musik (geistige Uebungen, darunter auch Musik) treiben, zu weich."

Die Musik, den Gesang nun führte Spieß in ausgedehnter Weise bei seinen Turnübungen ein und verschaffte dadurch denselben ein ganz besonderes Interesse. Ein nicht genug hervorzuhebendes Verdienst von Spieß ist es, daß er auch der weiblichen Gymnastik wieder zu ihrem Rechte, das sie seit der Zeit der spartanischen Jungfrauen ganz verloren zu haben schien, verholfen und dadurch der jetzigen und der künftigen Generation eine wesentliche Wohlthat erwiesen hat. Es ist Thatsache, daß in den meisten deutschen Ländern, namentlich auch in Württemberg, dem Turnen von seiten der Regierung bedeutender Vorschub geleistet wurde, daß die Schüler in den Städten meistens verbunden sind, regelmäßig bei den Turnübungen zu erscheinen, und diese einen Bestandtheil des Classenunterrichts ausmachen. Dagegen ist das weibliche Geschlecht in dieser Beziehung noch auffallend vernachlässigt, während doch die weibliche Gymnastik bei der zarten Organisation und bei dem ewigen Sitzen der Mädchen, so wie bei den gesteigerten geistigen Anforderungen, die man an sie macht, ein noch viel entschiedener hervortretendes Bedürfniß ist. In den Schulen wird nur zu oft der erste Keim zu so manchen Verunstaltungen des weiblichen Körpers gelegt. Die unzureichende körperliche Uebung und Erholung muß natürlich auch eine lähmende Rückwirkung auf Geist und Gemüth äußern, und der Tanzunterricht wird als vermeintlich schicklicheres Surrogat an die Stelle der Gymnastik gesetzt, während ein guter Turnunterricht die gesündeste Propädeutik, die beste Vorschule für das Tanzen abgibt.

In England hat man dem Turnen unter dem Namen "Kallisthenie" unter dem weiblichen Geschlecht der höheren und gebildeten Stände Eingang zu verschaffen gewußt. Hoffen wir, daß die rationelle Gymnastik auch bei unserer weiblichen Jugend sich mehr und mehr Bahn breche, unter denjenigen, welchen die Möglichkeit dazu gegeben ist, allgemein Brauch und Sitte, und dadurch eine gleichmäßigere geistige und leibliche Erziehung angestrebt werde. Preisen und fördern wir die Schönheit und Gesundheit der Seele, aber sorgen wir dafür, daß es nicht einseitig geschehe. Die Anstrengungen, welche die Gymnastik von dem Mädchen wie von dem Knaben fordert, von der Jungfrau wie von dem Jüngling, sie belohnen sich reichlich durch die wohlthuende Erholung von der geistigen Anstregung, welche Schule und Unterricht der Jugend zumuthen muß, durch die heilsame Aufhebung der durch jede einseitige Thätigkeit bewirkten Störungen und schwächenden Verzerrungen. Sie öffnen im jugendlichen Menschen überhaupt den reinen, unerschöpflichen Born der natürlichen frischen gesunden Kraft und Grazie, sie beseitigen alle Hemmungen im Organismus, sie geben der Hand und dem Fuß jene Sicherheit und Elasticität, dem Geiste jenes Selbstvertrauen, jene Beweglichkeit, jene poetische und moralische Stimmung und Haltung, der gegenüber man auf den ersten Anblick in den freudigen Ruf ausbricht: das ist ein gesunder, ein schöner Mensch, das ist ein Charakter!

Unser Landsmann Hölderlin sagt:

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern',
Und verstehe die Freiheit
Aufzubrechen, wohin er will.

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
Kontakt: mailto:siegfriedcarl@hotmail.com
letzte Änderung: 21.04.00

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