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1875

 

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Prolog

Ausstellung zum Thema "Calmbach und das Jahr 1875"

(während die Zuschauer die Ausstellung betrachten, dringen aus dem Theater- bzw. Wirtsraum die Geräusche eines stets lauter werdenden Streites; umfallende Stühle, herunterfallende Gläser, lauter Wortwechsel, Geschrei, lautes Türöffnen - dann Stille)

alte Männerstimme: Was ist denn hier los, Fritz, lass den Burschen.

junge Männerstimme (zornig): Lasst mich, Vater - und du Karl, pass lieber auf die Gretel auf, sonst schnappt sie sich dieser gotteslästerliche Sozialist.

sehr junge Männerstimme (beschwichtigend): Ach Fritz, lass die Gretel aus dem Spiel, und bezähm du deinen Jähzorn.

junge Männerstimme: Was soll das - nur weil ich keine solche Memme bin wie du .

sehr junge Männerstimme: Sei nicht ungerecht und dumm.

junge Männerstimme: Du nennst mich dumm - (brüllt) das für die Dummheit!

(dann ein lauter Schrei - Stille - Bestürzung, hektische Betriebsamkeit und davoneilende Schritte)

Saalöffnung

(am Stammtisch sitzt mit dem Rücken zur Wirtsstubentüre, dumpf vor sich hinstierend, einen halbvollen Mostkrug vor sich, Johann Friedrich Dürr)

* *

1. Szene

(Emma Dürr betritt die Bühne mit Putzzeug und beginnt langsam und mühsam, stets dem Weinen nahe, aufzuräumen und die Blut- und Mostflecken zu putzen; Johann Friedrich Dürr wird von ihr behandelt, als gehöre er zum Mobiliar - d.h. er wird nicht beachtet)

Emma Dürr: Ich hab das kommen sehen.
Nein - Gretel sollte das nicht tun - sie vergeudet sich (leiser) und die anderen.
Und ich muss die Sauerei wegmachen, die Mutter stellt die Ordnung wieder her. Da hat man sie von der Brust, aus den Windeln, großgezogen und endlich aus dem Haus; und jetzt kommen sie wieder, eine nach der andern. Und ich rackere mich ab - Tag und Nacht, jahraus - jahrein.
Und ich dachte, wenigstens die Gretel würde in der Stadt ihr Glück machen. Zum Glück hat sie sich nichts andrehen lassen - wär ja noch schöner, wenn ich auch noch die Bälger am Hals hätt! Immer läufig, immer den Männern den Kopf verdrehn - nichts anderes im eigenen - dass ihr nicht mal einer den Hals rumdreht.
Ja - die Männer - !
Meiner ist schon drei Jahre unter der Erde - Gott hab ihn selig, damals beim Wehr am Enzhof - der Stamm hat ihm glatt die Därme rausgedrückt - wenigstens hat er kaum leiden müssen, sagt der Pfarrer. Aber dass Agathas Alex sich letztes Jahr tot gesoffen hat - und jetzt hängt sie bei mir rum, und giftet hier die Männer an. Was die eine zuviel hat, hat die andere zuwenig. Gott-sei-Dank hat die Lisbeth gut geheiratet; den Gerhard hätt ich auch haben wollen - ein richtiger Mann und reich dazu.
Jetzt sind wir ein Drei-Weiber-Haus - zwei früh verwit(t)wete, mit aller Last, den Lebensunterhalt zu verdienen, und eine, die den Hals nicht voll kriegen kann, wenn sie die Männer nur riecht. Aber die wird auch noch vernünftig, wenn sie erst unter der Haube ist, der Karl wär schon der Richtige - das Erbteil stimmt auch. Und son Küfer hat wohl immer sein Auskommen.

Margarethe Dürr (betritt zögernd den Raum, auf halbem Weg, hilflos, fast nur gehaucht): Mutter - Mutter, das hab ich nicht gewollt, ich hab's auch nicht gewusst!

Emma Dürr: Lass mal gut sein, Gretel, ich hab geputzt und der eine Stich wird schon so schlimm nicht sein.

Margarethe Dürr (schaut die Mutter fassungslos an, dann lauter und mit gepresster, ins hysterische steigernder Stimme): Mutter, er ist tot - tot ist der Karl - und ich? ich bin schuld!

Emma Dürr: Er ist tot? Aber der Fritz hat doch gar nicht fest zugestochen, und der Karl hat doch den Streit nur schlichten wollen.

Margarethe Dürr: Der Fritz hat seinen Bruder abgestochen, und eigentlich hat er mich doch nur vor dem Fremden in Schutz nehmen wollte. (ganz leise) Ich hab den Karl doch wirklich geliebt. Er hätt wissen müssen, dass sein älterer Bruder im Jähzorn zu allem fähig ist, und dass er sich im Streit nicht stören lässt und nicht beherrschen kann.

Emma Dürr: Und du hast den Fremden gereizt, musstest immer vor ihm rum scharwänzeln, ihm schön tun.

Margarethe Dürr: Aber Mutter, ich wollt doch bloß ... (die Mutter unterbricht sie)

Emma Dürr: Man macht keinem Mann ungestraft schöne Augen, schon gar nicht einem fremden Schwätzer, wenn die Familie dabei ist; was hätt der Karl gesagt, wenn der Fritz nicht dazwischen gegangen wär.

Margarethe Dürr: Aber ich wollt nichts von dem Fremden, nur mal so .. - dass der Fritz ihm gleich an die Kehle geht, wer konnte das wissen - ich hab das wirklich nicht gewollt ...

Agatha Barth (kommt wie eine Furie in die Gaststube, keifend voll Spott und Häme): Hin ist er; wie eine Sau abgestochen vom eignen Bruder - wegen der da (zeigt abfällig auf ihre jüngere Schwester).
Du hast immer gemeint, eine schöne Fratze und ein geiler Arsch genügen, und die Männer fallen reihenweise um. Ja! - sie fallen um - mausetot; und das Schwesterlein weint bittre Tränen.

Emma Dürr (während Margarethe aschfahl im Gesicht langsam auf einem Stuhl niedersinkt und weinend ihr Gesicht verbirgt, schneidend zu Agathe): Agathe, schweig!
Du bist die Letzte, die ein Recht hat, so zu urteilen. Wer hat denn deinen Alten in den Suff und in den Tod getrieben?

Agatha Barth (eiskalt): Mutter! - Warum musste Vater für den jungen Gernhardt das Kreuz krumm machen und ist dabei verreckt? Weil Du ihm das Leben zur Hölle gemacht und die Gäste vergrault hast. Erst als du ihn endlich vom Helfreich unter die Erde hast bringen lassen, bist du aufgeblüht wie eine Glucke, hast die Lisbeth mit dem Gernhardt verkuppelt, und denkst immer noch, dabei ein Geschäft gemacht zu haben.

Emma Dürr: Wie redest du mit deiner Mutter, und wie urteilst du über den Gerhard? - Versündige dich nicht, Kind! Ohne ihn ginge es uns bedeutend dreckiger. Du hättest ihn wohl auch gern gehabt, aber du warst schon unter der Haube, da hat er dann die Lisbeth genommen - und ich bin froh drum.

Margarethe Dürr (sitzend, unter Tränen): Wir sind ein verfluchtes Geschlecht. Nur die Lisbeth ist glücklich geworden mit ihrem Mann. Wir drei bringen nur Unglück - ich glaub, wir haben den bösen Blick.

Agatha Barth (zu M.D.): Du hast den bösen Blick - du Perle! Vater hat gewusst warum er dich immer vergöttert hat; 'meine kleine Schwarze' hat er immer gesagt, wenn er dich auf den Schoß genommen hat. Er hat's geahnt, dass er mit dir anders umspringen konnte, als mit uns beiden andern.
Mutter? wie war das in den Fünfzigern, als die Zigeuner durchkamen mit ihren Pferden, und du Vater gebeten hast, die beiden kläpprigen Braunen zu kaufen, die ihr Geld nie wert waren.

Margarethe Dürr (sich langsam vom Schluchzen lösend, indem sie langsam aufsteht): Was sagst du da? Du erklärst deine eigene Mutter zur Hure - mit Zigeunern?
(bitter) Oh du Teufelin! Wenn du etwas in den Dreck ziehen kannst, bist du zufrieden. Der eigne Mann, die Schwestern, und jetzt sogar Mutter - keine Blutsbande sind dir heilig!

Emma Dürr: Oh unselig der Tag, an dem ihr in dieses Haus zurückgekehrt seid! Die eine: alt und verbiestert; die andre: jung und unernst - und beide: nur hinter den Hosen her. Ein Unglück ist das heiße Blut, das in uns fließt. Das bringt die Männer um den Verstand und ums Leben.

Agatha Barth (spöttisch): Das heiße Blut? aber kalte Herzen - ja das hast du uns mitgegeben. Sonst nicht viel. Und unser Weiberhaushalt lebt von Gernhardts Gnaden. Ich bin es leid, immer nur die heruntergefallenen Brotkrumen vom Glück zu kriegen - ich möcht endlich Leben.

Margarethe Dürr (sich in ohnmächtige Wut steigernd): Du hast doch deine Chance gehabt, und wie hast du sie genutzt? Du hattest einen anständigen Mann und ein warmes Nest - was wolltest du denn mehr? War dir der eine nicht gut genug? Dabei hat dich der Alex doch anfangs angebetet, der hätte alles für seine geliebte Agatha gemacht. Aber du! Du hattest nur Augen für alle anderen, jüngeren - konntest den Rock nie schnell genug hoch und die Beine auseinander kriegen. Pfui Teufel! mir wird schlecht dabei, wenn ich dran denk, mit wem du's alles getrieben hast.

Agatha Barth (schlägt M.D. mit der Handrückseite ins Gesicht, zornrot): Sei du ganz still - wer in der Stadt war, brauch über andre nicht zu richten. Was weißt du denn, was das für ein Leben war, mit dem Alex, mit seiner runtergekommenen Wirtschaft.

Margarethe Dürr (A.B. entgeistert anstarrend): Was soll das mit der Stadt - bist wohl neidisch, hier nie rausgekommen zu sein? Ich hab mich sauber gehalten. Man kann auch Männer kennen und lieben, ohne gleich (mit ihnen was anzufangen!)... - aber das verstehst du wohl nicht. Und du bist doch mit Schuld, dass der Alex nicht mehr hochgekommen ist. Männer aushalten und gute Gäste vertreiben - hier fängst du doch schon wieder genauso an.
Bist wohl neidisch, dass der Sozi mir und nicht dir schöne Augen gemacht hat. (unterbricht sich schluchzend) Und ich hab den Karl doch so geliebt.

Agatha Barth Geliebt?
Dass ich nicht lache. Ich glaub fast, von uns kann keine lieben, wir sind nicht für so was geschaffen. Mutter nicht, ich bin nicht fähig dazu - und was die Lisbeth für Liebe hält? (lacht verbittert) Und jetzt glaubst du, den Karl geliebt zu haben - eine Dürr, und Lieben! Der Karl war doch zu schad für dich; das mit der Stadt - du kannst mir viel erzählen von wegen sauber gehalten. Warum bist du denn reumütig heim gekrochen?

Margarethe Dürr (leise): Du sagst, wir können nicht lieben. Vielleicht hast du recht. Uns hat ja auch keiner vorgemacht, wie das ist, wenn einer liebt. Aber drum muss man's doch immer wieder versuchen. Und den Karl (fängt wieder leise zu schluchzen an) - den Karl hätt ich lieben können.
(fasst sich wieder) Wir sind hart geboren und später noch härter geworden. Du warst doch auch verliebt in den Alex, als ihr verlobt wart und geheiratet habt. (setzt sich) Und als eure kleine Olga geboren wurde - (träumerisch) ich hab mir als Mädchen so immer das Glück vorgestellt.

Agatha Barth (ruhiger als zuvor, aber immer noch hart): Jetzt werd nicht sentimental. Was weißt du denn, wie schwer das alles war - du warst doch grade erst konfirmiert, noch ein halbes Kind. (beginnt nun selbst sich zu erinnern) Aber zuerst war es eigentlich schön, wir drei. Der Alex war richtig glücklich mit der Olga. Bis wir's dann wussten - Pneumonie hat der Arzt gesagt, und die Olga war zu schwach. Da hab ich auch erst nicht mehr leben wollen, und der Alex ist fast trübsinnig geworden. Die Gäste sind nicht mehr gekommen, um fröhlich zu trinken, sondern um uns zu bedauern.
(wieder hart) Jetzt werd ich selbst noch sentimental. Schluss mit dem Gewäsch.

Margarethe Dürr (hat der Schwester aufmerksam zugehört): Und dann hast du aufgehört, das Lieben zu versuchen. Hast andern Männern schöne Augen gemacht und deinen Alex vernachlässigt; hast ihn vor andern schlecht gemacht, einen Schlappschwanz genannt. Fünf Jahre ging das so, und wir - ja alle Calmbächer konnten mit ansehen, wie du den Alex lächerlich gemacht hast. Er hat das Saufen angefangen - und zum Schluss hat er's nüchtern nicht mehr ertragen und war immer voll.
Darum bin ich in die Stadt - ich hab halt gedacht, dass ich genauso werde, wenn ich hier nicht raus komme. Genauso eine wie du, unfähig selbst, das Lieben zu versuchen.

Agatha Barth (spöttisch): Der Alex - ja, er hat sich tot gesoffen. Bin ich schuld, dass der so ne Memme war? Er war immerhin mehr als zehn Jahre älter als ich, als Zwanzigjährige hatte er mir imponiert. Aber dann, wo er über vierzig war und nur noch rumgejammert hat - nicht mal mehr Mitleid konnt ich mit dem haben. Wie soll man so einen lieben.

Emma Dürr (geht grob dazwischen): Jetzt ist's aber genug!
Der Karl ist eben tot - und wir wissen nichts besseres, als uns gegenseitig schlecht zu machen.
Du Gretel, wisch dir die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht - und du Agatha, hör auf, alles und jeden schuldig zu sprechen.
Packt lieber mit an, dass aufgeräumt ist. Hernach wird der Gerhard mit dem jungen Proß kommen - was sollen die denken.

Margarethe Dürr: Mutter! Du kannst nur ans Geschäft denken.

Emma Dürr (leise und besonnen): Ich muss ans Geschäft denken. Die Wirtschaft ist das einzige, was uns über Wasser hält. Sie ernährt uns, schützt und beherbergt uns. Ohne sie wären wir nichts mehr. Wir müssten uns irgendwo verdingen, ja könnten froh sein, wenn wir in der Stadt irgendwo einfache Arbeit bekommen würden. Bettlerinnen wären wir ohne die Wirtschaft. Und darum denk ich immer ans Geschäft.

Margarethe Dürr (wirft ein): Wenn nur Vater noch leben würde!

Emma Dürr: Ja, wir sind ein männerloses Haus. Agatha und ich haben keinen Mann mehr, und du hast noch keinen - und wir sind alle drei auch mit schuld daran.

Agatha Barth: Du und ich, wir haben aber auch kein Glück gehabt mit den Männern. Vater war wie mein Alex keiner, der eine glückliche Hand mit seiner Wirtschaft hatte. Immer haben die beiden ihr Eigenes mit versoffen und mussten zu verdienen.

Margarethe Dürr: Und wir haben schon als Kinder den Geruch verschwitzter und verrauchter Wirtshausluft einatmen müssen. Wir sind zwischen Most- und Saichlachen groß geworden. Den Buckel haben alle immer krumm gemacht, bis niemand mehr aufrecht gehen konnte. Immer nur Dienen und Gehorchen, zu sonst nichts werden wir benutzt.

Agatha Barth: Alles große Elend und das kleine Glück und die Hoffnungen der Männer hier im Tal haben wir auf Strömen von Most und Schnaps wegschwimmen sehen. Wo wir doch immer hofften, dass die Enz und der Neckar die Flöße mit den Männern wegschwemmen, und sie vom Rhein wieder mit viel Geld in den Taschen zurückkommen.

Emma Dürr (versonnen): So war's auch noch vor gar nicht so langer Zeit, da hat man mit der Flößerei noch gut Geld gemacht. Auch unser kleines Glück hat der Opa so zusammengekratzt. Und in meiner Kindheit gab's mehr als einmal im Monat ein gutes Stück Braten.

Agatha Barth: Auch der Alex hat mit seinem Vater die 'Linde' mit der Flößerei verdient, aber als sie ihre Wirtschaft hatten, und der Alex mich geheiratet hat, sind die Zeiten schlechter geworden. Mit der Flößerei geht's halt in den letzten zehn Jahren dauernd bergab, seitdem sie die Eisenbahn ins Enztal gelegt haben. Nurmehr wenige haben gutes Geld für harte Arbeit verdient und genauso wenige haben's in den Wirtschaften wieder ausgegeben. Und die sind doch eher ins 'Rössle' oder den 'Anker' als zu uns in die 'Linde' oder hierher zu Vater gegangen.

Margarethe Dürr (die aufmerksam der Mutter und der älteren Schwester zugehört hat, wendet ein): Aber warum hat das ganze so enden müssen? Gab es keinen Weg, das Zipfelchen vom Glück festzuhalten?

Emma Dürr: Du hast vorhin gesagt: 'Wenn Vater noch leben würde!' und du hast recht. Er war wahrlich kein großer Geschäftsmann - wie Agathas Alex auch - aber er hatte die Hosen an, er hatte das Sagen, auf ihn hat man gehört.
(selbstanklagend) Und erst nach dem Siebziegerkrieg, als unser Großer nicht mehr heim gekommen ist, wurde er haltlos, hat getrunken, sich nicht mehr ums Geschäft gekümmert und dem Gerhard nebenher beim Flößen geholfen, um die Familie über Wasser zu halten. Da hab ich auch nicht mehr auf ihn hören mögen. Aber so hat Lisbeth wenigstens ihren Mann kennen gelernt, und es hat ein Gutes gehabt.

Agatha Barth (fällt ihr ins Wort): Ob das wirklich so gut war? Vater hat's Leben und du deinen Mann verloren. Und als Vaters Chef hat sich der ehrenwerte Herr Gernhardt bei uns eingeschlichen. Lisbeth hat seinem Werben doch nachgeben müssen,

Margarethe Dürr (unterbricht): Aber du hättest doch selbst gern ...

Agatha Barth (weist sie bestimmt, aber nicht zornig zurück): Lass uns einmal ernsthaft sein und unsere bösen Neigungen vergessen. Nur eins dazu: Ja, ich hätte ihn gerne selbst gehabt - aber als Mann, nicht als Mensch - denn nur als Mann taugt er was. Und das hat die Lisbeth sicher längst selbst gemerkt. Natürlich kann er eine Frau heute noch um den Finger wickeln, wenn er auftritt, wenn er spricht und wenn er lacht. Aber wann ist denn der mal ehrlich.
(besonnen) Mein Alex war immer ehrlich, darum konnte ich ihm auch das Leben so schwer machen. Er hat gelitten, als die Olga starb und ich ihm nicht mehr gut sein konnte - und er hat's gezeigt, dass er unglücklich war, und er ist daran zerbrochen. Ein rechter Mann war er nicht, mein Alex, aber ein guter Mensch.

Emma Dürr (auch in Gedanken versunken): Jetzt sind wir ohne Männer, unser Großer im Krieg gefallen und Vater - das war grässlich, als er so plötzlich nicht mehr war. Was ist eine Frau denn ohne einen Mann? Ein Nichts! Keiner nimmt einen ernst, und jeder versucht eine einsame Frau auszunehmen. Kredit will jeder haben, aber Kredit geben? Eine Frau kann keine Sicherheiten bieten, sie hat keine wertvolle Arbeitskraft zu verkaufen.

Agatha Barth: Aber du hast doch Sicherheiten gehabt, den Hof und die Wirtschaft. Bei mir hat ja alles dem Alex noch gar nicht ganz gehört, als es mit uns bergab ging. Und dann war's schnell zerronnen. Aber warum du alles dem Gernhardt für das bisschen Geliehene und auf seine bloßen Zusagen hin, weiter zu helfen, überschreiben musstest. Mutter, ich versteh das nicht.

Margarethe Dürr (fragt nach): Dann gehört uns hier nichts und dem kalten Gernhardt alles, Mutter?

Emma Dürr (mit einem tiefen Seufzer): Ja Kinder, ich musste dies tun, als Vater starb. Die Schulden, die Vater beim Gerhard gemacht hatte, waren nicht zu hoch, aber ich konnt sie nicht mehr zurückzahlen. Und wo doch der Gerhard die Lisbeth genommen hat und mir noch dazu versprochen hat, immer zu helfen, hab ich ihm halt zuerst für die Schulden den Hof überschrieben, und später für die Hilfe bis zu meinem Tod noch die Wirtschaft dazu.

Margarethe Dürr (entsetzt): Aber Mutter.

Emma Dürr (mit Tränen in den Augen): Gretel, ich hatte Vater auf dem Gewissen und war ganz allein auf der Welt. Eine Frau ist nichts ohne Mann. Der Gerhard hat halt geholfen - und er hilft immer noch.

Agatha Barth (bitter): Er hat aber auch alles dafür bekommen. Deine Lieblingstochter und allen Besitz dazu.

Emma Dürr: Ach Kind, schweig! Du lebst doch auch von ihm. Alle denken, die Wirtschaft wirft genug ab für uns drei Weiber. - Wenn der Gerhard nicht helfen würde und mir die Bücher für die Steuern führen würde. Er kann das eben, und uns allen - auch dir und der Lisbeth - ist doch damit auch geholfen.

Agatha Barth: Er ist raffgierig und hat alles nur aus dieser Gier heraus gemacht. Der will doch nicht helfen - nein, der hat kein Herz. Bei ihm ist nur der schwere Beutel wichtig.

Margarethe Dürr: Und ich? Die Schwestern haben den Männern eine Mitgift ins Haus gebracht. Sie konnten stolz auf ihre Familie sein. Und mir als jüngster soll nun sogar das Elternhaus an den Gernhardt verschachert sein.

Agatha Barth (schnippisch): Du brauchst ja jetzt erst mal keine Mitgift mehr.

Margarethe Dürr (als erwachte sie aus einem kurzen Traum - beginnt sich zu besinnen): Ach der Karl, wenn er nur noch leben würde, ich hab Schuld an seinem Tod. Und doch ...

Emma Dürr (unterbricht M.D., fest): Ihr Mädchen, jetzt seid ihr keine Kinder mehr; als ihr noch klein wart, seid ihr immer unter meine Decke gekrochen, wenn euch etwas bedrückt hat. Jetzt geht das nicht mehr. Wir haben alle drei unsre menschliche Unschuld verloren und einen Mann auf dem Gewissen. Und selbst wenn wir sie nicht lieben konnten, weil wir es nie gelernt haben und darum unfähig dazu waren, sie waren Männer!
Machen wir uns aber nach außen nicht schlechter als wir sind. Welche arme Frau ist denn besser? Liebe ist etwas für die, die es sich leisten können - nicht für unsereins. Nicht wir haben Schuld am Tod der Männer. Merkt euch, wenn andere Fragen stellen, die Zeit ist's, die Umständ. Wir haben's ja nicht gewollt.

Agatha Barth: Und jetzt sind wir auf uns gestellt und brauchen den sauberen Gernhardt als Stellvertreter für die durch unsere Schuld Umgekommenen. Vielleicht ist das die Buße, die uns dafür auferlegt ist. Wir haben liebe Menschen, die wir nicht erkennen konnten, gegen einen Mann, der uns beherrscht, getauscht.

(Anna Dürr tritt zögerlich in die Wirtshaustüre und bleibt dort während des folgenden Dialogs schüchtern stehen)

Margarethe Dürr (zu A.B.): Verzeih mir, wenn ich ungerecht war. Aber du hast mir wirklich nicht das Glücklichsein vorgelebt. Es hat mich abgestoßen, dich den Alex quälen zu sehen. Ich wusste doch das mit der Olga nicht so genau. Und wie das mit dem Lieben bei den Frauen unserer Familie ist, das hab ich auch nicht gewusst.
(schwärmerisch) So wie in der Berliner Illustrierten Zeitung hab ich mir die Liebe und die Ehe vorgestellt. So wie bei den Prinzessinnen und Königen oder den russischen Zaren. Nicht so schmutzig.
(nachdenklicher) Ich wollt es einfach anders machen, als ich's von allen anderen hier vorgelebt bekam, wollt mir meine Unabhängigkeit so lange wie möglich bewahren. Und der Karl - er war wirklich ein guter Mensch.

Agatha Barth (legt den Arm versöhnlich um Ihre Schultern): Früher hatte ich auch Träume - die sind mir schnell genommen worden. Wir sind keine Prinzessinnen, nur Wirtstöchter. Einen Mann brauchen wir fürs Leben, fürs Überleben. Mich hat das mit unsrer Olga und dem Alex auch gequält. Und dass du's mir vorwirfst, hat mir eben doch auch weh getan.
Doch Schwamm drüber, ich hab meine Chance gehabt und muss mit dem, was mir noch gegeben wird, zufrieden sein. - Aber du bist noch jung und hast das Leben noch vor dir. Es gibt noch andere Männer. Ob du an dem blassen Kerl wirklich froh geworden wärst ...

Margarethe Dürr (fest und sachlich): Ich hab den Karl auf dem Gewissen - an der Schuld werd ich immer tragen - (zurückgenommen, beinahe zärtlich) und ich hab ihn doch so lieb gehabt.

* *

1. Zwischenstück

Anna Dürr (steht seit einigen Minuten in der Türe, im Rücken ihres Mannes J.F.D., mit schwacher Stimme, steigernd lauter werdend, aber doch verhalten):
Johann (sie tritt zögernd zwei Schritte vorwärts) - Johann - (drängend) Hannes; wann kommst du heim, die Kinder warten seit gestern auf ihren Vater. Und ich brauch Geld fürs Nötigste, zum Einkaufen morgen.

Johann Friedrich Dürr (unwirsch, ohne den Blick vom Krug zu heben): Ich komm schon, wenn's Zeit ist. Was suchst du in der Wirtschaft. Geh heim, guck nach den Jungen.

Anna Dürr (ängstlich, drängend): Hannes, als du mich in dein Haus geholt hast, hast du versprochen, ich müsst nicht mehr ums Brot betteln und für andere den Rücken krumm machen, wie ich's bei der Pflege von den Krüppeln gemacht hab. Und jetzt trag ich das Sechste unterm Herzen und muss beim eigenen Mann betteln. Hannes komm heim und vertrink's Geld nicht alles.

Johann Friedrich Dürr (knapp und hart): Plärr nicht und geh heim.

Anna Dürr (weicht ängstlich zögernd zurück): Hannes - bitte!

Johann Friedrich Dürr (immer noch ohne den Blick zu heben, laut und brutal): Mach, dass du fortkommst und lass mir meine Ruh. (A.D. zuckt zusammen, als würde sie getreten, geht ab)

* *

2. Szene

Agatha Barth (am Fenster, hinter A.D. herschauend, wendet sich in die Wirtsstube): Da kommt der Pfarrer Helfreich und die Frau Pfarrer mit der Philippina auch endlich aus der Bibelstund; die werden noch separat nachgebetet haben!

Emma Dürr: Ruf sie rein, sie werden's noch nicht gehört haben. Und die alte Philippina wird wissen, was wir tun müssen, sie wird's wissen - wenn sie überhaupt mitkommt.

Margarethe Dürr: Ist denn die Frau Pfarrer auch dabei? Die geht doch immer drei Schritt hinter ihrem Herrn Pfarrer her. (nachdenklicher) Ja, die Dode soll kommen und raten - (nach kurzer Pause, fester) auf den Helfreich könnt ich verzichten, der mit seinen Sprüchen.

Agatha Barth (zum Fenster hinaus): Herr Pfarrer, Frau Philippina! Denkt nur, der Karl ist tot. (in den Raum hinein) Sie kommen - die Frau Pfarrer ist auch dabei - schnell, richtet einen Platz für die Philippina, wenn sie da bleibt - den Helfreich wird's wohl an den Stammtisch ziehen.
(man richtet einen kleinen Beistelltisch mit einer leinenen Tischdecke für zwei Personen her, ein wenig abseits des Stammtisches, mit einem kleinen Südweinglas und einem bequemen, gepolsterten Stuhl - ein 'Ehrenplatz'; währenddessen:)

Margarethe Dürr: Ob die Dode bleibt? Ich würd mich freuen, hab sie lange nicht gesehen.

Emma Dürr: Ja, die gute alte Philippina. Sie ist keine Wirtshaushockerin, obwohl sie doch das Geld hätte, sich einen Mittagstisch für jeden Tag zu reservieren. So betet sie lieber in ihrem großen Haus und denkt an ihren verstorbenen Textor.

Agatha Barth: Mutter sei nicht ungerecht. Manch einer - und vor allem manch eine wäre längst vor die Hunde gegangen, wenn die alte Philippina nicht mit Geld und kleinen Gaben helfen würde. Und ihr Mann hat doch's Geld ehrlich verdient. Nicht wie heute die Holzhändler. Nur mit Druck und Spekulation.

Emma Dürr: Hast ja recht, Agatha, ich dacht nur gerade an uns, und wie uns immer das bisschen Geld zwischen den Fingern zerronnen ist, wenn wir mal was hatten.

Margarethe Dürr: Wo bleiben die denn? Wo ...

(die Gaststubentüre öffnet sich, F.H. tritt ein)

Fürchtegott Helfreich (spricht nach hinten, in der Türe stehend): Philippina, Sie können ruhig mitkommen in die Gaststube, auch der Herr hat sich unter die Weintrinker gemischt, ja gar Wasser in Wein verwandelt.

Helene Helfreich (von außerhalb): Ja Frau Textor, der Herr Pfarrer hat recht. Und wo doch scheinbar der Karl Proß ums Leben gekommen ist.

Agatha Barth (ruft zu den Hereinkommenden): Was heißt hier scheinbar, der Fritz hat seinen eigenen Bruder erstochen, wegen einem Franzosenfreund, einem Sozi.

Fürchtegott Helfreich (tritt ganz in das Zimmer, hinter ihm erscheint bescheiden aber neugierig P.T., H.H. tritt erst kurz darauf in die Türe): Der Fritz seinen Bruder, wie Kain den Abel. Wie war das möglich - was ist vorgefallen?

Philippina Textor (eilt - während H.H. wenige Schritte hinter der Türe stehen bleibt und auf die aufgeregte Gesellschaft blickt - auf M.D. zu und nimmt sie in die Arme): Meine arme Gretel, dein Karl ist tot, wie hat der Herrgott das zulassen können?

Margarethe Dürr (wieder leise schluchzend): Dode, Dode - und ich bin schuld, wo ich ihn doch so gern gehabt hab!

Emma Dürr (unterbricht sie): Papperlapapp, du bist nicht schuld. Wenn der Sozi nicht so aufwieglerisch gesprochen hätt wär nichts - aber auch gar nichts passiert. Vielleicht ein blaues Auge - der Fritz hat sich ja immer gern geprügelt.

Agatha Barth: Setzen sie sich doch Frau Textor, hier haben wir einen kleinen Tisch gerichtet.

Philippina Textor (bescheiden): Macht doch keine Umstände. (geht, M.D. an der Hand nehmend an den Tisch, setzt sich; M.D. bleibt bei ihr stehen)

Helene Helfreich (noch unter der Türe): Ich verstehe nichts, welche Verwirrung der Gemüter! Wer hat wen um wessen Willen ums Leben gebracht.

Fürchtegott Helfreich Ja meine liebe Helene - (leise zu ihr): und wie du die Kasus unters Volk wirfst - köstlich! - (wieder lauter zu allen) Du hast recht, liebe Helene, nicht nur eine Verwirrung der Gemüter, mehr noch eine der Seelen scheint hier vorzuliegen!
Schön der Reihe nach. Zunächst ein herzliches Grüß Gott euch allen, ihr Lieben. Der Herr sei bei euch alle Tage, lobet den Herren.

(alle grüßen zurück und zu P.T., die noch immer die schluchzende M.D. tröstet, und H.H., die noch in der Türe steht)

Agatha Barth: Sie hätten dabei sein sollen. Der Herr Pfarrer hätt sicher dem Sozi Paroli bieten können bei seinen lasterhaften Sprüchen gegen die Majestäten. Und er hätt auch dem gotteslästerlichen Gerede Einhalt geboten.

Fürchtegott Helfreich (versucht Ruhe hineinzubringen): Nochmal der Reihe nach: der Fritz und der Karl sind doch keine Sozialisten und sprechen nie wider die göttliche Ordnung ... der Herr kennt die sündigen Gedanken, die auch hier mancher hegt - (besonnen) aber der Fritz und der Karl?!

Helene Helfreich (die zu P.T. und M.D. getreten ist): Ja Fürchtegott! Ganz recht so. Nun, was ist vorgefallen, liebe Schwestern im Herrn. (setzt sich zu P.T.)

Philippina Textor: Margarete, Gretel - Kind. Wie war das mit deinem Karl.

Margarethe Dürr (zu H.H., nun etwas ruhiger): Er ist tot. Der Fritz hat ihn wegen mir ...

Emma Dürr (unterbricht, scharf zu M.D.): Gretel!
(zu den anderen) Es hat alles ganz friedlich begonnen. Der Fritz, zwei Säger vom Proß und zwei Flößer - (deutet auf J.F.D.) der Hannes ist ja immer noch da - die haben also zusammen am Stammtisch gezecht. Der Fritz hat einen ausgegeben, weil er doch für die Sedansfeier in Neuenbürg die Tribünen bauen soll.

Agatha Barth (fällt ein): Und außerdem hat er die Zimmerarbeiten für den Kohlenstall am Bahnhof Pforzheim übertragen bekommen. Zwei so gute Geschäfte waren ihm ne Runde wert.
Nur der Hannes war nicht so recht bei Laune, er hat immer wieder auf die Holzhändler geschimpft.
(zu J.F.D., der sich allmählich - aber mit immer größeren Schlucken - weiterbetrinkt) Was ist denn mit dir, Hannes.

Johann Friedrich Dürr (brummelnd): Lasst mich; was wisst ihr denn schon. Ich war immer Flößer und jetzt? Der Fremde hat Recht: wer nichts zu arbeiten hat, kriegt auch nichts zu essen. (leert einen Becher Most in einem Zug)

(M.D. bringt P.T. und H.H. ein Glas Wein und einen Krug Wasser, nach und nach bekommen alle einen Krug Most eingeschenkt)

Fürchtegott Helfreich: Aber Johannes. Ein rechter, gesunder Mann wie du hat immer Arbeit. Und außerdem, wie steht es in der Schrift: Seht die Vögelein unter dem Himmel, sie arbeiten nicht und der Herr unser Gott ernährt sie doch.

Johann Friedrich Dürr: Ist schon recht, Herr Pfarrer. (trinkt in sich versunken weiter)

Fürchtegott Helfreich (zu den anderen): Wer ist der immer wieder angesprochene Sozialist und was hat der mit dem Tod vom jungen Karl zu tun, ich dachte, der Fritz habe es getan.

Agatha Barth: Ja wie die so richtig am Zechen waren und die Becher auf den König Wilhelm und den Sedaner Sieg vor fünf Jahren gehoben haben, ist ein Fremder reingekommen. Mutter, du hast ihn doch auch nicht gekannt.

Emma Dürr: Nein, der war noch nie hier. So ein schmaler Rothaariger, aus dem Badischen hat der wohl rübergemacht.

Agatha Barth: Der hat gesagt, der Reichskanzler sei ein Lügner, und nur durch Betrug wär'n die Franzosen in den Krieg verwickelt worden. Und jetzt will der Bismarck die Franzosen wieder zwingen. Wo doch eine Demokratie, was die Franzosen sind, viel besser als ein Kaiser wär. Und der Fritz hat ihm einen Becher Most ins Gesicht geschüttet und ihn einen Hochverräter genannt. In einem Haus, das mit dem Blut des einzigen Sohnes das Vaterland verteidigt hätte, soll er solche Reden lassen. Er wär ein Sozialist, und das ist vom Teufel.

Fürchtegott Helfreich:So ist es, da hat der Fritz recht gehabt.
Und wie lässt der Sänger doch so schön und richtig König Wilhelm nach der Schlacht bei Gravelotte beten:

"Herr, gieb daß diese Erde,
Gedüngt mit deutschem Blut,
Nun wieder Deutschland's werde
Ureig'nes, ew'ges Gut.

Sei diese Schlacht entschieden
Im düstern Abendschein.
Die letzte, Herr! laß Frieden
Und einig Deutschland sein!"

Und so ist's ja dann auch richtig gekommen. Deutschland, einig Vaterland.

Helene Helfreich (ihren Mann bewundernd anschauend): Das hast du schön gesagt, Fürchtegott.

Fürchtegott Helfreich: Hat nicht schon der Herr gesprochen, dass wir dem Kaiser geben sollen, was ihm gebührt.

Agatha Barth: Aber ob wir ihm gleich auch unser Württemberg und die Kreuzer und Gulden geben sollen, davon steht nichts in der Schrift. Das hat der Rote gesagt - Baden und Württemberg und ihr Geld hätt der Bismarck den Menschen gestohlen.

Fürchtegott Helfreich (scharf zu A.B.): Du siehst, Agatha Barth, was aus solchen Reden kommt. Streit, Zwietracht und Tod. Die göttliche Ordnung setzt Herren und Knechte. Und wer zum Dienen bestimmt ist, möge dienen, jeder an seinem Ort.

Agatha Barth (trotzig): Aber ich habe doch nur gesagt, was der Sozi gesagt hat.

Fürchtegott Helfreich: Reden ist Silber - Schweigen ist Gold.
(zu den anderen) Und wie war dann der Fortgang, wie kam es zu dem Unglück.

Philippina Textor: Sind sie nicht ungerecht zu den Jüngeren, Herr Pfarrer. Agatha sagt doch nur, was sie gehört hat. Ich glaube, sie weiß selbst, dass Gott, unser Herr, alles weise geordnet hat.

Helene Helfreich: Ja Fürchtegott, sei nicht so hart.

Margarethe Dürr: Der Fremde hat mich eben auch angelacht und dann gesungen: "Ei du Mädchen vom Lande ..."

Agatha Barth: Und beim "So hab ich im Städtchen noch keine geseh'n!" ist der Fritz mit einem Donnerwetter dazwischen gegangen.
(steigert sich atemlos) Er hat dem Sozi mal recht die Meinung gesagt. Dass die Franzosen schon zurecht bei Sedan ihre gotteslästerlichen Umtriebe haben büßen müssen, und dass sie jetzt alle jungen Männer in die Armee zwingen, und dass wir hier im Württembergischen froh seien, einen König und einen Kaiser und einen Bismarck zu haben, und dass ein Calmbacher Mädchen nichts mit badischen linken Gotteslästerern zu tun hätte. Und dann hat der Sozi auch noch angefangen in unserem Haus die Marseillaise zu singen. Hier bei uns! Denken sie nur, Herr Pfarrer, diese Teufelslied.

Emma Dürr (fällt ein): Da ist der Fritz mit den Fäusten auf ihn losgegangen.

Agatha Barth (empört mit hochrotem Kopf): Und der Fremde hat sich nicht einmal gewehrt. Er ist vom Boden aufgestanden, hat sich den Staub aus der Jacke geschüttelt und den Fritz frech angelacht und gesagt, dass so brutal eben die Großdeutschen sind.

Fürchtegott Helfreich (ereifert sich): Ja so ist der rechte Deutsche, ein Mann des Wortes und der Tat. Man muss dieser sozialistischen, antichristlichen Brut zeigen, wo das Recht Gottes ist, der Schlange den Kopf in den Staub treten.
(die Umstehenden sind erstaunt ruhig geworden, F.H. besinnt sich) Und wie ist's dann zu dem Unglück mit Karl gekommen, er war doch gar nicht am Streit beteiligt.

Margarethe Dürr: Als der Fremde den Fritz und mich angelacht hat, ist grad der Karl mit seinem Vater reingekommen.

Agatha Barth: Der alte Proß hat dem Fritz gesagt, sie wollen am nächsten Sonntag auf Stuttgart, weil der preußische Kronprinz von Potsdam zur Inspektion der Truppen kommt. Da hat der Rote gelacht und einen Witz über die Ulanen gemacht, die sicher den Calmbacher Mädchen in ihren Uniformen besser gefielen als ein freiheitsliebender Demokrat. Da ist der Fritz aber auf ihn los.
Und als der Vater den Streit hat schlichten wollen und der Karl mit seinem Bruder versucht hat zu reden, hat ihn der Fritz im Versehen mit dem Messer gestochen.

Emma Dürr: Er hat nur einmal gestochen, und dass es gleich ans Leben geht, wer hätt das gedacht. Das hat doch keiner gewollt.

Fürchtegott Helfreich (unbesonnen und aufgeregt): Ein solcher Sozialist ist keinen Kreuzer wert, und schon gar nicht ein Menschenleben. Gerade der Karl! - Einen andern hätt es schon treffen mögen.

Helene Helfreich: Aber Fürchtegott, vergiss dich nicht.

Philippina Textor (die aufmerksam und manchmal still den Kopf schüttelnd zugehört hat): Du sollst nicht töten, spricht der Herr. Es kann darum nie gerecht sein, jemanden zu töten, Herr Pfarrer.

Fürchtegott Helfreich: Es steht aber auch geschrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und darum sollen die Sozialisten und die Franzosen es büßen, dass der Karl hat sterben müssen.

Philippina Textor: Wie soll das geschehen? Herr Pfarrer. Seien sie nicht ungerecht.

Fürchtegott Helfreich: Bei der Sedansfeier in drei Wochen werden alle hören, wie ein Donnerhall durchs deutsche Reich den Welschen entgegenweht. Und wenn wir nicht mehr kleinlich mit Kreuzern und Gulden rechnen, und die deutsche Mark sich erst überall im deutschen Reich durchsetzt, wird's auch allen besser gehen, die jetzt nicht zu arbeiten haben. Und Friede und Wohlstand wird einkehren.

Philippina Textor (vom Nebentisch): Gerade ist ein junges Leben verblüht, um uns herum nichts als Elend und Not, und sie Herr Pfarrer müssen sich über Politisches ereifern.

Emma Dürr (die ungläubig und verständnislos dabeisteht): Ja, wenn nur alle hier bei uns Arbeit oder wenigstens etwas zu Essen hätten.

Agatha Barth: Und wenn die Arbeit nicht so hart und der Verdienst höher wär, so dass es nicht nur ums Überleben geht. Oh Herr Pfarrer, manchmal hab ich Angst, wies weiter gehen soll.

Margarethe Dürr (wie erwachend): Gerade für uns Frauen ist es zu hart - fast mein ich, der Fremde hätt in manchem Recht gehabt.

Emma Dürr: Aber Kind, versündige dich nicht; er hat deinen Karl auf dem Gewissen.

Margarethe Dürr (fest): Wo doch mein Karl grad beim Brachhold in Wildbad frische Fassdauben gekauft hatte, wegen dem zu erwartenden Herbstgeschäft; und nun soll ich ganz alleine bleiben, hier in diesem Haus, in dem keine gelernt hat, recht zu wirtschaften.

Helene Helfreich: Ihr solltet einem Mann im Haus haben, das würde euch Halt geben und wäre dem Herrn wohlgefällig. Nicht wahr Fürchtegott?

Fürchtegott Helfreich: Ja, Helene, das denke ich auch. Die Zeiten sind nur von Männern zu überstehen. Das Weib ist zu schwach und bedarf der Stütze. Ihr seht ja wie verderblich es ist. Gretel hört ja schon auf den Fremden. Die Saat Satans geht auf, wenn nicht die lenkende Hand des gottefürchtigen Mannes hilft.

Agatha Barth (plötzlich hart): Ich kann verzichten auf die Männer. An dem Unglück sind doch nur die Männer schuld. Wer führt die Kriege, macht die Geschäfte und regiert uns: Männer. Und wer hilft den Armen, Waisen und Kranken: die Frauen sind's.

Helene Helfreich (hilft ihr): Da kannst du kaum widersprechen, lieber Fürchtegott. Im Stuttgarter Königshaus waren und sind es die Frauen, die den Armen helfen. Schauen dir doch nur das Olgaspital und das Katharinenstift an.

Margarethe Dürr Und bei uns hilft die Dode. (härter) Wir können uns ja nicht selbst helfen, denn was zählt eine Frau sonst schon.

Emma Dürr (besonnen): Ein Mann im Haus wär eine große Hilfe.

Fürchtegott Helfreich: So wird es sein. Der Herr hat das Weib zum Dienen geschaffen, und den Mann hat er zum Herrn seiner Schöpfung bestellt. Die göttliche Ordnung in Frage zu stellen heißt, Gott zu leugnen.

(alle schauen betreten zu Boden; in die allgemeine Stille und Betretenheit hinein tritt, von allen noch unbemerkt, langsam Anna Dürr in die Türe)

Fürchtegott Helfreich: Weil man Gottes Ordnung in Frage stellt, ist der Karl umgekommen. Nur wer seine Hoffnung auf Gott und den Kaiser richtet, wird in schwerer Zeit die Kraft gewinnen, in diesem armen Land zu überdauern.

Margarethe Dürr (die langsam begreift, was um sie herum vor sich geht): Dann war es eigentlich gar nicht meine Schuld. Die Umstände und die Politik ist's, wo eine Familie, eine Frau nichts zählt. Nur der Profit. Es ist die vom Mann beherrschte Zeit, in die der Karl sich auch nicht hat fügen mögen.
Ja mein Karl, ich hab ihn gern gehabt, aber ob ich ihn hätte lieben können?

Emma Dürr (nimmt sie in den Arm): Nein, mein Kind, wir haben's dir schon einmal gesagt, du bist nicht schuld an seinem Tod. Die Zeiten sind rau und kalt geworden seit ihr Kinder wart. Und nun musst du unter großen Schmerzen erwachsen werden.

Philippina Textor: Ja ja, die Zeiten sind schlimm geworden, und darum hat der Karl sterben müssen. Der Herrgott hat ihn und uns hier in Calmbach vergessen.

* *

2. Zwischenstück

Anna Dürr (steht wiederum seit einigen Minuten in der Türe, im Rücken ihres Mannes J.F.D.; drängender und bestimmter als beim ersten Mal): Hannes - die Kinder haben seit drei Wochen nur Brot und Hafersupp. Ich brauch dringend Geld - vom Gernhardt kriegen wir nichts mehr, der will schon das letzte mit Zins zurück.

Johann Friedrich Dürr (dem man den Genuss mehrerer Kannen Mostes anmerkt): Was ist Alte? - Lass mich in Ruh mit dem Gezerfe und mach, dass du fortkommst. (vor sich hin murmelnd) Ich hätt sie weiter die Krüppel pflegen lassen sollen!

Anna Dürr (ängstlicher, aber sehr zart): Hannes - die Kinder hungern ... (trotzig) und ich auch!

Johann Friedrich Dürr (fährt zornig auf und wirft mit einem völlig ausgetrockneten Brotanschnitt und mehreren Pfennigen nach ihr) Hier, nimm und friss! Und scher dich zum Teufel!

Philippina Textor (während A.D. den Brotanschnitt und die Pfennige auf den Knien rutschend und weinend aufsammelt für sie ungewohnt scharf): Johannes Dürr, wie behandelst du dein Fleisch? Du bist zu ihr wie die Schlange, der unser Herrgott einst Feindschaft gesetzt hat mit ihrem Weib, dabei solltest du ihr Herr sein. (hilft A.D. beim Aufklauben der unter die Tische gerollten Pfennige, während F.F.D. vor sich hin murmelt)

Johann Friedrich Dürr: Die Alte soll sich um ihres kümmern, was weiß sie schon wies ist, wenn einer keine Arbeit hat, weil man ihn nicht mehr braucht - weggeworfen - wie ein Stück morsches Holz.

Philippina Textor (fest zu A.D., um die sie beschützend den Arm legt): Anna komm! Setz dich auf einen Schluck Most zu mir, dann kannst du mich hernach heimbegleiten, ich richt einen Korb für dich und die Kinder , den nimmst du dann mit. (setzen sich an einen kleinen, abseitigen Tisch; P.T kümmert sich mit H.H. intensiv um A.D., die weiterhin schluchzt)

Helene Helfreich (spielt die Beschützende): Ab der kommenden Woche ist das Sammeln von Preiselbeeren in den Staatswaldungen im Wildbad wieder gestattet. Da geh ich mit dir und den Kleinen am Mittwoch pflücken.

* *

3. Szene

(man hört draußen eine proletenhaft laute Männerstimme, die gönnerhaft, von lautem Lachen einer Frau unterbrochen auf einen Dritten einredet; die Türe öffnet sich und es tritt herrisch von seiner gutgekleideten Frau begleitet Gerhard Gernhardt auf; hinter ihm, bescheiden den Hut in der Hand knetend Wilhelm Proß mit seiner Frau, die in der Türe stehen bleibt)

Gerhard Gernhardt: Guten Abend miteinander - was ist denn das für ne Trauergesellschaft? (lacht laut und satt)

Elisabeth Gernhardt (geht auf E.D. zu und fasst sie an beiden Händen): Grüß Gott Mutter (beiseite, ohne ihre Schwestern anzuschauen) Agatha, Gretel!

Agatha Barth und Margarethe Dürr (beinahe gleichzeitig):
- Denk dir nur, der Karl Proß ist tot.
- Mein Karl hat sterben müssen.

Elisabeth Gernhardt: Was sagt ihr ist passiert - der Karl ist tot?

Fürchtegott Helfreich: (gleichzeitig zu W.P.): Grüß Gott lieber Willi - und am Tag des Herrn in Geschäften unterwegs?

Wilhelm Pross: Ähmm - (räuspert sich) Grüß Gott Herr Pfarrer - (wendet sich) Erna, sag dem Herrn Pfarrer Grüß Gott!

Erna Pross (einen Knicks andeutend): Guten Abend Herr Pfarrer.

Fürchtegott Helfreich (zwickt sie väterlich-vertraut in die Wange): Wir werden auch immer schöner, Erna Proß.

Erna Pross (schaut mit hochrotem Kopf M.D. an): Aber Herr Pfarrer!

Helene Helfreich (gleichzeitig vom Tisch her): Aber Fürchtegott.

Fürchtegott Helfreich: Ist der junge Karl Proß nicht mit dir verwandt, Willi?

Wilhelm Pross: Ja entfernt, Herr Pfarrer. Wir haben kaum miteinander zu tun. Der Fritz kauft manchmal bei uns Bauholz, erst jetzt hat er mir wieder einiges abgenommen, wir haben es am Freitag nach Neuenbürg geführt. Aber was ist denn passiert mit dem Karl?

(Pfarrer und Ehepaar Proß stehen etwas abseits, dem Bericht der Frauen zuhörend und diesen kommentierend)

Gerhard Gernhardt (herrisch): Wer ist der Karl? Ist das der Hitzkopf von nebenan, der Schreiner-Proß?

Emma Dürr: Nein, der Karl ist Küfer, der Hitzkopf ist der ältere, der Fritz, der hat Gretels Karl, seinen eigenen Bruder abgestochen.

Agatha Barth Fast genau hier wo du stehst, du kannst den nassen Fleck noch sehen.

Emma Dürr: Noch keine Stunde ist es her.

Elisabeth Gernhardt (mitfühlend): Arme Gretel - nun bist du ungefreit Wit(t)we, Agatha hatte wenigstens ein paar Jährchen, um ihren Alex zu genießen.

Margarethe Dürr (zwischen den Zähnen): Danke! - auf dein Mitgefühl pfeif ich - du aufgeplusterte Henne mit deinem Gockel!

Agatha Barth (zu E.G. scharf): Lass das, Lisbeth! Sprich nicht über was, das du nicht verstehen kannst; dein Glashaus könnt zerbrechen.

Gerhard Gernhardt (der die letzten Worte nicht gehört hat): Nun mal sachlich und knapp - wir sind nicht hergekommen, um zu plaudern - (reibt die Finger in Richtung W.P.) hier geht's um ein Sümmchen! (schlägt W.P. jovial auf die Schulter)

Agatha Barth (ihren Schwager, der sie nie anschaut, scharf taxierend): Der Fritz hatte einen Streit mit nem Sozialisten, der die Majestäten beleidigt, französische Lieder gesungen und der Gretel zugezwinkert hat.

Gerhard Gernhardt (unterbricht sie): Ha ha ha - zuzwinkern ist gut (schlägt sich anspielend auf die Schenkel) ha ha ha ...

Agatha Barth (zu G.G., den sie feindlich anschaut): Lass du deine Sprüche, und lass uns Frauen in Frieden mit deinen Anspielungen.
(zu allen gewendet) Der Fritz und der Fremde hatten schon ganz schön einen Dampf, (zeigt auf J.F.D.) wie der da; die sind sofort ordentlich zur Sache gegangen. (G.G reibt sich genießerisch die Hände) Und da ist der alte Proß mit dem Karl gekommen, die wollten den Fritz nach der Bibelstund hier treffen und mit heim nehmen, weil sie mit ihm nächste Woche nach Stuttgart wollten, - die wussten ja, wie viel der säuft. Der Vater wollt den Streit schlichten, und der Karl hat gesagt, der Fritz wär dumm, wenn er alles nur mit Gewalt lösen will; und dann hat der Fritz einfach zugestochen. Wir haben ihn rüber gebracht. Daheim ist er dann gestorben, der Karl.

Gerhard Gernhardt: Und eure Gretel ist jetzt wieder zu haben - wird Zeit, dass ihr die unter die Haube kriegt, bevor sie heißläuft - ha ha ha ...

Elisabeth Gernhardt (recht unfreundlich): Gerhard, lass meine Schwester aus dem Spiel! Da ist für dich nichts zu holen. (schaut ihn scharf an)

Margarethe Dürr (ihrer Schwester ins Wort fallend): Du brauchst mich nicht zu verteidigen. (zu G.G. gewand) Und mit dir bin ich eh fertig, du geiler Bock. Mit deinen fetten Händen versuchst du doch jeder untern Rock zu gehen, keine hier ist vor dir sicher.

Gerhard Gernhardt (sich beherrschend): Wer jeden so einlädt wie du ... (wegwerfende Handbewegung) aber lassen wir das, der Kerl ist tot, wir können nicht mehr dran ändern. Wir haben dringendes zu verhandeln. (im alten, herrischen Ton) Wo habt ihr uns einen Tisch gerichtet.

(M.D. stampft wütend raus und schlägt laut die Tür hinter sich zu)

Emma Dürr (deutet auf den etwas besser eingedeckten Tisch): Da Gerhard, brauchst nur zu sagen, wenn ihr was braucht.

Gerhard Gernhardt: Proß, auf, an die Geschäfte - ja los, nun kommt schon. (Wilhelm und Erna Proß, die noch in leisem Gespräch mit dem Pfarrer vertieft waren, zucken zusammen. die Ehepaare Gernhardt und Proß. setzen sich)
Wein, Emma, einen Liter für uns, aber was Feines.

Emma Dürr: Roten oder Weißen?

Agatha Barth: Lass nur Mutter, ich mach das schon. (zum Tisch hin) Wir haben vom Schlund aus Sinzheim einen guten Badischen im Keller, etwas über ne Mark den Liter.

Gerhard Gernhardt: Wird schon recht sein, ihr kennt ja meinen Gaumen. Und vier von den guten Zigarren - so für 5 Pfennige.

Agatha Barth: Es sind nur die Schwarzen für 2 Pfennige da.

Gerhard Gernhardt (unwirsch): Wenn ihr doch aber wisst, dass ich komme. So bringt ihr den Laden nie in Schwung. (lacht unverschämt) Aber dann wieder zum Gernhardt wegen einem Kredit einkommen - wo mir hier doch sowieso schon alles gehört! Na ja Agatha, hast dich ja wenigstens endlich ans Rechnen mit Mark und Pfennig gewöhnt. Du solltest deiner Mutter mal ne Umrechnungstabelle besorgen, ab Januar kommt sie mit ihren Gulden und Kreuzern nicht mehr weit.
(nach einer kurzen Pause, versöhnlich) Gut, bring mir vier Zigarren, das beste halt was da ist, ein Liter Badischen und für Elisabeth und mich ein Veschper - (zu W.P., ohne eine Antwort zu erwarten) ihr esst ja sicherlich nichts?
So, Proß - was hast du anzubieten?

Emma Dürr (geht hinaus): Ich mach dir was Gutes, Gerhard - wie du's immer gerne magst.

Elisabeth Gernhardt (zu E.P): Wie geht es denn dem Kleinen? Ist er noch immer so oft erkältet?

Gerhard Gernhardt (unterbricht): Übers Private nachher, da wird noch genug Zeit sein; wir haben Wichtigeres zu besprechen als Kinderkrankheiten!

Elisabeth Gernhardt: Was weißt du denn von Kindern - Agatha würde das verstehen.

Gerhard Gernhardt: Die wird froh sein, den Balg mit ihrem Mann los zu sein.

Agatha Barth (bringt den Wein und die Zigarren, und hat daher den letzten Satz gehört, bitter): Sprichst du von mir, Gernhardt?

Elisabeth Gernhardt (besänftigend): Lasst es gut sein; jedes Mal wenn wir bei euch sind, müsst ihr beide euch in die Haare.
(zu G.G. gewendet, ernst) Gerhard, sprich nicht so über die Kleinen, ich bitte dich!

Agatha Barth: Was weiß dein Mann denn davon, wies in uns Frauen hier aussieht. In denen, die er nur ausnutzt, deren Männer er zerbricht.

Elisabeth Gernhardt (leise): Und was weißt du, wie es in mir aussieht.

Gerhard Gernhardt (hört nicht hin und nimmt einen Schluck): Gut der Badische; da habt ihr einen guten Tropfen vom Schlund erwischt. (wendet sich zu W.P. und hebt sein Glas - dieser prostet ihm zu) Aber jetzt frisch ans Werk. Proß - wie viel Festmeter zu welchem Preis hast du anzubieten.

(A.B. geht aus dem Wirtshaus, um der Mutter zu helfen, bekommt daher den folgenden Dialog anfangs nicht mit)

Wilhelm Pross (nicht ohne Stolz): Ich hab's geschafft; hab das gesamte Stammholz vom Revier Wildbad und von den Neuenbürger Stadtwäldern aufgekauft. Mit den gut 3000 Festmetern vom Calmbacher Stammholzverkauf und meinen Lagerbeständen kann ich ihnen runde 5000 Festmeter bestes tannenes Lang- und Sägholz anbieten. Sie können's von mir zum Weitertransport in Stämmen oder auch zum Verbrauch zugesägt kriegen. Bauholzstämme und -stangen in unterschiedlicher Qualität und Brennholz kann ich auch liefern.

Gerhard Gernhardt (bedächtig): Fein, fein! Im letzten Jahr sah's ja wesentlich schlechter bei dir aus, da hast du wohl die Auktionen verschlafen? Ganz soviel brauch ich momentan nicht - (mehr beiseite) ich hab mich in Kaltenbronn und anderswo schon etwas eingedeckt - wie sieht's denn mit dem Preis aus?

Wilhelm Pross (strahlend): Den Preis vom letzten Jahr kann ich halten, kein Kreuzer mehr müssen sie bei mir heuer bezahlen. Diesmal hab ich's richtig groß angepackt. (strahlt seine Frau an)

Erna Pross: Ja, der Willi ist groß eingestiegen. (zu E.G.) Wo doch der Kleine oft zum Herrn Doktor muss, da wollen wir ihm halt auch das Beste bieten. Und da hat der Willi beschlossen, nicht mehr so kleine Geschäfte zu machen.

Wilhelm Pross (lachend): Ich sag mir halt: Klotzen statt Kleckern. Na Herr Gernhard, wie sieht's aus. Sollens bei dem guten Preis nicht doch ein paar Festmeter mehr sein. Ich sorg auch dafür, dass die Langholzstämme enzabwärts geflößt werden, sie brauchen's dann erst ab dem Neckar zu organisieren.

Gerhard Gernhardt (hat lächelnd zugehört und prustet los): Beim selben Preis wie im letzten Jahr wirst du dir wohl schwer tun, auch nur ein kleines Holzscheit zu verkaufen. Die Preise geben in Holland und auch hier nach. 15, ja 20% weniger werden für erstklassige Stämme verlangt - und bei der Abgabemenge. Na, ich will großzügig sein, 18% weniger als beim letzten Geschäft - da leg ich ja fast drauf, wenn ich an den Weiterverkauf in Amsterdam denke. Das mit dem Flößen kann man doch vergessen; ich sag nur eines: Eisenbahn. Billiger, praktischer und schneller geht's heut nicht mehr. (gönnerhaft) Das sind die neuen Zeiten, ich sag immer: Technik ist das Leben.
Na Proß, wenn du's mir bis zum Wildbader Bahnhof lieferst, können wir noch ein Prozentchen nachlassen.

Wilhelm Pross (der plötzlich aschfahl wird): Das können sie doch nicht machen, ich hab doch extra für sie alles aufgekauft, weil ich weiß, dass sie's abnehmen werden. Sie haben's doch im letzten Jahr gesagt?!

Gerhard Gernhardt: Ja doch - ich nehm doch auch alles ab. Versprochen ist versprochen. Aber über Preise wird man wohl reden müssen. (schärfer) 15% weniger als im letzten Jahr, und ich nehme alles ab, außer dem Brennholz natürlich; und zwar zahlbar sofort in Mark und Pfennig - das ist doch ein Wort. (schlägt W.P. auf die Schulter)

Erna Pross (versucht, energisch zu sein): Aber Herr Gernhardt, wo doch der Willi extra für sie so groß eingestiegen ist.

(M.D. erscheint wieder mit einem kleinen Teller für A.D., die sich gierig darüber hermacht, nicht ohne zuvor still gebetet zu haben)

Gerhard Gernhardt (unterbricht): Papperlapapp, was heißt hier für mich, jeder macht seine Geschäfte für sich und wie er's halt versteht.

Erna Pross: Der Willi hat doch aber alles eingesetzt, und der Kleine muss doch auch zum Herr Doktor.

Agatha Barth (bringt von draußen einen großen Vesperteller): Da Gernhardt, kannst ruhig kräftig zulangen, gehört dir ja sowieso.

Gerhard Gernhardt (macht sich über den Teller her): Prima sieht das aus - na die Emma weiß wenigstens, was eines Mannes Herz und Magen erfreut (lacht gönnerhaft). Da Lisbeth, lang auch zu, 's ist genug da (schiebt E.G. die Platte zu und nimmt einen kräftigen Schluck).

Erna Pross (schaut G.G. zunächst völlig verstört an und brüllt dann): Der Kleine muss zum Herr Dokter, und sie fressen sich den Ranzen voll.

Elisabeth Gernhardt: Ja, Gerhard, überleg dir das doch noch mal, gib ihnen doch den gleichen Preis wie im letzten Jahr. Ihr Kind wird's dir ewig danken.

Gerhard Gernhardt (unwirsch): Misch du dich nicht in die Geschäfte ein. Und bleibt mir mit dem Gejammere über die armen Kinder vom Leib.

Elisabeth Gernhardt:Von Kindern verstehe ich doch noch einiges mehr als du.

Gerhard Gernhardt: Was verstehst du von Kindern? (lacht hämisch) Bist doch unfähig, selber welche zu kriegen, und jetzt meinst du, dich dauernd um die Bälger anderer bekümmern zu müssen.

Elisabeth Gernhardt (schaut ihn verzweifelt an): Gerhard, bitte nicht in der Öffentlichkeit. Du weißt, dass ich dieses Thema nicht hören mag. Es belastet mich wie dich.

Gerhard Gernhardt (ironisch): Was heißt hier belasten; mir macht es nichts, wenn ich keine Kinder habe. Schon ein paar Schreihälse weniger, die es satt zu kriegen gilt. Man sieht doch hier allenthalben, wie die Kinder den Eltern die Haare vom Kopf fressen. Schau doch nur deine Familie an. Oder unseren guten Willi Proß.

Elisabeth Gernhardt (schüttelt den Kopf, lauter): Ich glaube fast, es ist gut so, dass wir kinderlos geblieben sind. Denn dich kann ich mir als Vater so gar nicht vorstellen. Ein bißchen Vorbild sollte man da doch auch sein, was hätten aber Kinder von dir schon lernen sollen?

Gerhard Gernhardt (boshaft): Das muss ich mir von einem unfruchtbaren Weib sagen lassen!

Agatha Barth (ruft dazwischen): Das ist ja wohl das letzte, Gernhardt. Hör auf, hier meine Schwester zu beschimpfen.

Elisabeth Gernhardt (resignierend): Lass nur, Agathe, der Gerhard meint es nicht so.

Gerhard Gernhardt: Und jetzt Schluss mit dem Blödsinn. Willi, wie steht's?

Wilhelm Pross (langsam die Sprache wiederfindend): Wenn ich ihnen 15% weniger als im letzten Jahr berechne, leg ich drauf. Ich hab eine Wechsel unterzeichnet, der mit den Zinsen die Summe ausmacht. Wie soll ich den zurückzahlen und auch noch leben?

(E.D. kommt mit sauberen Gläsern von draußen, stellt diese auf den Schanktisch und setzt sich strickend daneben)

Gerhard Gernhardt (wieder schmunzelnd, und dabei mit vollen Backen kauend): Weiß ich, weiß ich! (wischt sich mit dem Handrücken übern Mund und holt aus seiner Weste ein Blatt Papier) Da ist der Wechsel, hast beim Gernhardt Geld geborgt, und kriegst jetzt Gelegenheit, ihn schnellstens wieder rückzuzahlen.

Agatha Barth (die den letzten Wortwechsel mit angehört hat, scharf): Gernhardt, willst du den Proß ruinieren?

Fürchtegott Helfreich (fällt ein): Ja, Herr Gernhardt, das können sie nicht machen, das sind ja Methoden, wie man sie aus England hört.

Gerhard Gernhardt (weiterhin essend, großspurig): Ja ja, der Herr Pfarrer liest Zeitung. Da müsste er auch wissen, dass man jetzt in Stahl investiert, und dass solche Holzhandel grad noch fürs Kleingeld taugen. Ich muss auch sehen, dass die Geschäfte stimmen.

Margarethe Dürr: Und dabei über Kinderleichen gehen!! Sie sind doch ein mieser Kerl, alle ausnehmen, und sich den Ranzen voll schlagen. (verächtlich) Fettwanst.

Gerhard Gernhardt (schlägt auf den Tisch und brüllt): Das verbitt ich mir, in meinem Haus!

Elisabeth Gernhardt: Was soll das, in deinem Haus, in meinem elterlichen Haus dürfen wir Dürrs noch immer sagen, was wir wollen!

Agatha Barth: Ja Lisbeth, weißt du's denn gar nicht? Uns gehört hier nichts mehr. Dein Gernhardt (deutet hasserfüllt auf G.G.) hat sich nicht nur dich, sondern nach und nach den gesamten elterlichen Besitz unter den Nagel gerissen. Alles gehört ihm, wir sind zuhause nur noch geduldet.

Elisabeth Gernhardt (zu E.D., die am Schanktisch in sich zusammengesunken sitzt): Mutter! Stimmt das, was Agathe sagt.

(E.D. fängt laut zu Schluchzen an und verbirgt ihr Gesicht in den Händen)

Elisabeth Gernhardt: Das kann doch aber nicht sein?!

Fürchtegott Helfreich (gleichzeitig zu E.D.): Aber aber, wer wird denn weinen? Der Herr sieht alle unsere Schmerzen und Leiden und hält uns schützend in seiner Hand.

Margarethe Dürr: Da sitzt dieser miese Kerl, uns sie salbadern hier vom Herrn, Herr Pfarrer, statt dass sie ein Machtwort sprechen und den reichen Blutsauger in seine Schranken weisen. Auf alles sonst haben sie einen Spruch ...

Philippina Textor: Aber Kind, versündige dich nicht, so spricht man nicht mit dem Diener des Herrn.

Fürchtegott Helfreich: Margarethe! Hast du das bei mir im Konfirmandenunterricht gelernt, die Missachtung der Alten und die Missachtung der Worte des Herrn.

Margarethe Dürr: Ach was, Herr Pfarrer! Das ist doch eine scheinheilige Gesellschaft; sie und alle die anderen hier. Der Karl ist eben erstochen, und überm Blut des armen macht der saubere Herr Gernhardt seine sauberen Geschäfte. Und keiner schreitet ein.

Philippina Textor: Ja, wieweit sind wir gesunken. Die Gretel hat recht, statt uns zu besinnen im Angesicht des Todes, herrscht hier Streit und Zwietracht.

Fürchtegott Helfreich (der zuvor zu seiner Frau getreten ist): Komm, Helene, wir gehen lieber. Wie gottlos es heute hier zugeht.

Helene Helfreich: Ja, Fürchtegott, du hast recht! Hier herrscht nur Streit und Zwietracht. Und gerade deshalb wünsche ich eine gute Nacht euch allen. (geht mit F.H. zur Türe)

Fürchtegott Helfreich: Der Herr sei mit euch und behüte euch in der dunklen Nacht.

(F.H. und H.H. gehen ab; nur P.T. , A.D. und E.D. grüßen zurück, die anderen fahren ohne Einhalt in ihrem Disput fort)

Elisabeth Gernhardt (die das zuvor Gehörte scheinbar noch nicht wahrhaben will): Gerhard, stimmt das wirklich, hast du Vaters gesamten Besitz von Mutter und meinen Schwestern in deine Hand gebracht?

Gerhard Gernhardt (wieder unbekümmert weiterkauend): Ja Lisbeth - jetzt gehört uns alles. Wer halt nicht recht wirtschaften kann, muss sehen, wo er bleibt. Ich habe ja kein wohltätiges, christliches Liebeswerk aufgebaut, sondern ein Wirtschaftsunternehmen. Ich hab mir das Meine auch bitter verdienen müssen. Wer aber immer zu spät kommt, den bestraft halt das Leben.

Wilhelm Pross (der noch immer nicht zu begreifen scheint): Jetzt aber mal wieder ernst. Sie machen doch nur einen Spaß, Herr Gernhardt. Also sie brauchen ja nicht gleich das ganze Holz bei mir zu holen, ich kann's gern ne Weile lagern. Und mit der Bezahlung, den Wechsel und noch fünf Prozent ...

Gerhard Gernhardt (lacht): Ja richtig, den Wechsel und noch fünf Prozent Zinsen und zwar bar in den nächsten zwei Wochen. Hat denn hier immer noch keiner gemerkt, dass Geschäfte nichts mit Spaß zu tun haben.
(steht auf) Lisbeth komm!, wir gehen. Das muss man sich mal vorstellen, da wird man als unschuldiger Mensch hier von diesen Nichtsnutzen an den Pranger gestellt.

Elisabeth Gernhardt (die auch aufgestanden ist): Nein Gerhard, so leicht kommst du hier mit mir nicht raus. Schon gar nicht in diesem Ton.

Gerhard Gernhardt (brutal): Jetzt halt's Maul und komm! (versucht, sie am Arm hinter sich her zu ziehen)

Margarethe Dürr (steht neben G.G.): Nichtsnutze nennen sie uns? Das ist doch die Höhe, muss man sich das von einem solchen Dreckskerl vorwerfen lassen.

Gerhard Gernhardt: Jetzt reicht's! (zu E.G.) Du kommst jetzt auf der Stelle mit!

Elisabeth Gernhardt (fest und bestimmt): Nein, ich komme jetzt nicht auf der Stelle mit, sondern du hörst mir mal zu: Ich lasse mich nicht weiter von dir befehligen und rumkommandieren. Was heute hier wieder abgelaufen ist, zeigt wieder mal deinen miesen Charakter, deine Menschenverachtung.
Du bist ein altes egoistisches Scheusal. Mutter und die ganze Familie hast du bestohlen, jetzt machst du deine schmutzigen Geschäfte hier in aller Öffentlichkeit und stürzt den Willi mit seiner Familie ins Unglück.

Gerhard Gernhardt (der staunend zugehört hat): Seit wann spielst du denn die Selbstgerechte? Lebst doch ganz gut bei mir. (lacht wiederum breit) Und der Willi ist doch selbst Schuld an seiner Misere. Wer jetzt noch in Kreuzern zählt und auf die Flößerei setzt hat doch nichts begriffen. Die engen Täler haben eben auch die Hirne verengt, und die Weitsicht fehlt. Da lob ich mir die überm Berg, ja, (reibt sich profitlich die Hände) die im Nagoldtal haben die Zeichen der Zeit erkannt und auf die Manufakturen gesetzt. Möbelschreinereien, Tuchwebereien und Papierfabriken, das bringt Geld.
(wieder ärgerlicher zu E.G.) So und jetzt komm! (zu W.P., indem er den Wechsel auf den Tisch haut) Mein letztes Wort: Das ganze Holz zum Wildbader Bahnhof lieferbar bis Ende August oder den Wechsel und Zinsen wie gesagt.

Agatha Barth (von der Theke her, wo sie bei ihrer Mutter steht und Messer poliert): Ich bin ja einiges von dir gewöhnt, Gernhardt - aber das geht doch wohl etwas zu weit; so kannst du doch nicht mit dem Willi umspringen. Denk auch an seine Familie.

Gerhard Gernhardt (hart): Ich hab's schon mal gesagt, da ist er selbst schuld. Der Willi ist ja ein guter Schreiner und Zimmerer, da findet er immer was. Grad gestern hat der Wilhelm Brachhold aus Wildbad 8 bis 10 Schreiner über ne Annonce im Enzthäler gesucht, ich glaub der Carl Näher in Pforzheim auch. Das wär's doch. Für ein eigenes Geschäft taugt der Willi halt nun mal nicht - das sieht man doch genau.

Agatha Barth (scharf): Was maßt du dir ein Urteil an über ehrliche Menschen.

Gerhard Gernhardt (fährt ihr über den Mund): Was soll das heißen?

Elisabeth Gernhardt (giftig): Dass du eben unehrlich bist, ...

Margarethe Dürr (ergänzt): ein rechter Dreckskerl.

Gerhard Gernhardt (unflätig ausfallend werdend): Ach ihr dummen Weiber aus einer bankrotten Familie. Ihr könnt doch nur das eine, und das nicht mal richtig. (macht eine obszöne Bewegung) Und von Männern und vom Geschäft versteht doch keine was.

Elisabeth Gernhardt (wütend): Gerhard, hör bitte auf. Komm, wir gehen!

Gerhard Gernhardt (lacht wieder überlegen)': Jetzt plötzlich willst du heim, und vorher noch die Moralische raushängen. Du bist doch die Dümmste von euch allen. Nichts im Kopf und mit meinem Geld die Vornehme spielen, die gönnerhafte Madame. Und ...

Elisabeth Gernhardt (brüllt ihn an): Du altes Ekel, reicht's denn nicht, dass du mich zu hause immer erniedrigst und wie ein Stück Dreck behandelst.

Margarethe Dürr (ungläubig staunend): Und ich dachte bisher immer, wenigstens bei euch würde es stimmen.

Gerhard Gernhardt (lächelnd und cool): Was heißt hier stimmen - was denkt ihr, warum ich die Lisbeth genommen habe?

Elisabeth Gernhardt (hasserfüllt): Langsam weiß ich, warum du mich genommen hast, ja! Alles wolltest du dir aneignen. Zuerst Vater ausnutzen, durch ihn in Calmbach und Neuenbürg eingeführt werden. Dann seine Geschäftsbeziehungen übernehmen und ihn aussaugen, bis er bei deinen Geschäften drauf gegangen ist. Und um vollends akzeptiert zu sein, mich heiraten.
Oh du dreckiger Geschäftemacher, du Jud.

(Gerhard Gernhardt lehnt am Tisch, überlegen lächelnd und seine Zigarre paffend; ab und an nimmt er einen kräftigen Schluck Wein; Agatha Barth ein Messer polierend in den Händen, geht langsam auf G.G. und die ihn hasserfüllt anstarrende Elisabeth Gernhardt zu; Emma Dürr stiert teilnahmslos vor sich hin. Philipina Textor und Anna Dürr schauen ungläubig bis angsterfüllt; die beiden Proß sitzen völlig demoralisiert am Tisch; Margarethe Dürr steht am Stammtisch und betrachtet die Szene)

Margarethe Dürr (leise): Es ist ein einziger Scheißhaufen, auf den man hier sieht. Gibt es denn keine normal fühlenden Menschen mehr.

Agatha Barth (mit unterdrücktem, ohnmächtigem Zorn in der Stimme, ganz langsam auf ihn zu gehend): Oh Gernhardt, wegen so einem Stück Dreck wie dir hat Vater sterben müssen. Und du hast dir hier alles an dich gerissen, mit schönen Worten und Drohungen wegen der Schulden.
Jeden, den du pressen kannst, nimmst du aus, bis ihm nicht einmal mehr das Leinenhemd gehört, das er am Leib trägt. Du gehst über Leichen.

Elisabeth Gernhardt (mit sich hysterisch überschlagender Stimme): Hätten dich doch die Franzosen damals bei Weißenburg gleich totschießen sollen, dann wär uns dies alles erspart geblieben. Als siegreicher Heimkehrer haben dich 71 alle hier aufgenommen. Viele haben in dir ihren Sohn gesehen, den sie fürs Vaterland geopfert haben. Und du hast sie alle ausgenutzt, auch Vater.

Gerhard Gernhardt (überlegen): Ja seid ihr denn so blauäugig? Was hab ich euch denn letztlich getan, außer ein bisschen frischen Wind in das verschlafene Nest zu bringen? Was euch fehlt ist eben einfach der Durchblick - und dafür kann ich ja nun wirklich nichts.

Agatha Barth (die inzwischen vor G.G. steht): Was uns fehlt, ist der Mut, gegen solche Schmarotzer wie dich vorzugehen, uns von dir zu befreien.

Margarethe Dürr (leise): Endlich scheint's die auch zu begreifen!

Gerhard Gernhardt: Ich glaube eher, dass ich mich von dieser Mischpoke hier befreien muss. (zu E.G.) Ich gehe, bleib du nur, wir sind geschiedene Leute.

Agatha Barth (bitter): Ja, auch wir sind geschiedene Leute, (brüllt) und zwar für immer (und sticht mit dem Messer, das sie während des kurzen Gesprächs poliert hat, zu).

(während G.G. zu Boden fällt, starren alle erstaunt, ängstlich, triumphierend zu; um sich blickend nimmt W.P. den noch auf dem Tisch liegenden Wechsel an sich; in die entstandene Stille sagt PT:)

Philippina Textor: Die neue Zeit ist angebrochen, das Recht unseres Herrgott hat ausgedient.

(Black out - G.G. verschwindet - alle anderen, außer Fürchtegott Helfreich vor die Bühne)

* *

Finale

(Es stehen vor der Bühne v.r.n.l. Helene Helfreich, Johann Friedrich Dürr, Anna Dürr, Wilhelm Proß, Erna Proß, Margarethe Dürr, Emma Dürr, Agatha Barth, Elisabeth Gernhardt, Philippina Textor; sie geben nacheinander ein Statement ab:)

Helene Helfreich:
Ich hab schon als Kind den Erzengel Gabriel spielen dürfen. Den Glanz hab ich noch heute. Der Herr wird bald kommen, und die Lebendigen und Toten richten. Dafür hab ich mir meinen Glanz bewahrt. Das hier sind nur die Vorboten des Antichristes. Da werden noch mehr Selbstgerechte sterben müssen.

Eigentlich hatte er's verdient. Er war kein gottesfürchtiger Mann und die Strafe für sein gottloses Tun hat er nun erhalten.

Johann Friedrich Dürr
Männer wie er sind Schuld an der Arbeitslosigkeit und Armut unsereins. Er hat uns alle ausgepresst und weggeworfen wie alten Apfeltrester. Den Most hat er für sich behalten. Er hat's Holz auf die Bahn verladen und damit uns Flößern das Überleben schwer, ja unmöglich gemacht.

Es ist schon recht, dass solche Männer büßen müssen für unsere Leiden.

Anna Dürr
Geld hat er immer geliehen, wenn wir was brauchten - und wir brauchten öfters etwas. Aber nie ein liebes Wort zu den Kindern, nie eine Frage, wies einem geht. Und nur beim Fälligkeitstermin des Geschuldeten war er pünktlich zur Stelle und hat alles auf Heller und Pfennig zurückhaben wollen. Und wenn man eben nicht zahlen konnte, musste der Johann alles bei ihm abarbeiten - und wie er ihn geschunden hat.

Ich bin froh, dass er nicht mehr ist.

Wilhelm Pross
Und ich hab immer hochgeschaut zu ihm, ich dachte, dass es schön wär, so zu sein wie er. Er hatte Erfolg auf allen Gebieten, was er angepackt hat, ist ihm gelungen. Nie hätte ich gewagt zu denken, mit welchen Methoden er's erreicht hat. Dass er alle ausgenutzt hat und kein Gedanke an die Menschen dabei war. Jetzt weiß ich's - mich wolt er auch ruinieren, nur wegen des schnöden Gewinns, den er mit dem Holz hätte machen können.

Geschieht ihm recht.

Erna Pross

Nein, daß ihn selbst unser Kleiner mit all seinen Krankheiten nicht gedauert hat. Er tät über Leichen gehen für seinen Profit.

Und jetzt ist er selbst eine.

Margarethe Dürr
Hochmut kommt vor dem Fall. Ich hab heute die Augen geöffnet bekommen. Der Sozi hat so unrecht nicht gehabt mit seinen Beschuldigungen an die Herrschenden, ans Militär und all das. Nur hätt er den Fritz nicht so reizen dürfen, der wollte einfach streiten. Der Gernhardt ist doch schuld dran, dass hier alle so streitsüchtig geworden sind, er hat uns doch alle zu Knechten und Mägden gemacht, die sich um das wenige, was er übrig läßt, streiten.

Solche Kreaturen muss man ausjäten wie Unkraut aus dem Acker. Ich glaub, ich kann auch nicht mehr länger hier bleiben. Ich werd mein Glück wieder woanders suchen.

Emma Dürr
Und trotzdem, so hätte es nicht enden dürfen. Jetzt ist der letzte Mann in unsrer Familie tot. Erst unser Großer im Franzosenkrieg, dann Vater so grausam, und Agathas Alex mit seinen fürchterlichen Krämpfen. Und heute der Karl, der noch gar nicht richtig zur Familie gehörte - und jetzt auch noch der Gerhard.

Nein, so hätte es trotz allem nicht enden dürfen.

Agatha Barth
Ich kann jetzt endlich wieder frei atmen. Wir sind alle befreit, von diesem Scheusal, von den Schulden und von den Vorwurf, nichts zu taugen. Und ich hab auch keine Angst vor dem, was kommen mag. Die Richter werden schon zu werten wissen, was uns dieser Gernhardt angetan hat - und sie werden's verstehn.

Ich bin stolz, dass ich's getan hab.

Elisabeth Gernhardt
Wie ich gelernt habe, ihn zu hassen, die wenigen Jahre, die wir verheiratet waren. Nur wie kann eine Frau sich denn heute gegen ihren Mann entscheiden, keiner hätt es verstanden. Aber er hat mich gequält - damals, als wir einfach ein Kind wollten, oh, ich hätt so gerne eines gehabt. Und er hat mich einen unfruchtbaren Acker genannt, bei dem sich's Flügen nicht mal mehr lohnen würde. Ich bräucht mich nicht zu wundern, wenn ein Bauer sich fruchtbareren Boden suchen würde, um zu säen. Und ein kaltes Weib hat er mich genannt, wenn ich mich seiner brutalen Lust nicht hab fügen wollen. Dabei durft keiner von der Familie und seinen Geschäftspartnern was merken. Wenn ich mal was angedeutet habe, hat er mich geprügelt und mir angedroht, mich aus dem Haus zu werfen. Ich wusste ja, was mir dann geblüht hätte.

Ich fühle mich richtig frei. Er hat den Lohn erhalten, den er verdient.

Philippina Textor
Es ist nie recht, Unrecht durch weiteres Unrecht zu vergelten. Und das Blut eines Menschen darf nie vergossen werden. Man hätte warten müssen, was aus ihm noch wird. Vielleicht wäre er später mal ein großer Wohltäter geworden. Aber Hass und Zwietracht regieren die moderne Welt, und das Geld und die Missgunst obendrein.

Wenn die neue Ordnung der Welt nur noch dem Stärkeren das Geld, die Macht und das Recht gibt, so habe ich wohl zu lange gelebt.

(alle verharren einen Moment sitzend im Dunkeln, dann Licht, alle stehen auf; [hoffentlich] Applaus, alle ab)

* *

Epilog (aus den Wolken)

Gerhard Gernhardt (im elegant-legeren Anzug, erfolgreicher Unternehmer, coole Frohnatur; sitzt in Designer-Sessel lässig zurückgelehnt; in der Hand hält er nebst einer Davidoff-Cigarre ein Funktelefon; Computeratmosphäre - bedrucktes Endlospapier)

[Hallo, die Verbindung ist miserabel, können sie mich verstehen - hier 'Mangement Heute' ... sprech ich mit Jerry Gernhard?]

Ja ... Jerry Gernhard ... selbst am Apparat. Sie haben mich am Funktelefon erwischt. Hier im Osten funktioniert doch nichts. Ich hör sie bestens, wie war noch mal ihr Name?

[Irene Gläubiger ... ich hätt gern einige Statements von ihnen.]

Irene Gläubiger, ha ha ha ... Gläubiger, das ist gut, ha ha ha ... Und? Blond, gut gebaut, ha ha ha ...! Nu mal ernst, was gibt's im goldnen Westen für Fragen?

[Im letzten Jahr waren sie der shooting-star der Investment-Szene, jetzt Manager des Monats. Wie fühlt man sich?]

Tja, im letzten Jahr das mit dem Öko-Investment. Da staunt die Branche, dass mit Ethik-Fonds Geld zu machen ist. Hab den ganzen Schmus gut an die Hypo abgegeben. ... Bisschen früh, das mit dem Manager des Monats, warten sie mal ab, bis ich hier in Leipzig und Halle richtig loszieh. Dieser Moloch Treuhand bremst doch, wie er nur kann ... alles Beamte, wissen nicht, was Arbeit bedeutet und können auch nicht richtig leben. Aber denen werd ich's noch beibringen.

[Wie meinen sie das?]

Na hat doch jeder gewusst, dass die Wirtschaftsvereinigung kein Zuckerschlecken wird. Die sind doch schon mal 'auferstanden aus Ruinen', ha ha ha ... Aber die Treuhand macht's letzthin schlimmer als es beim richtig großen Crash gewesen wäre. Das ist doch mehr oder weniger ne Investitions-Verhinderungsbehörde. Die Banken und Versicherungen zeigen denen, wo's lang geht. Rein in den Osten und ran an den Kunden. Man muss die Eisen schmieden, wenn sie heiß sind. Bei den Treuhändern braucht man drei Anwälte im Gefolge, dass einen keiner bescheißt, und keiner was übersieht. Und kurz vorm Abschluss fällt irgend so nem Paragraphenhengst noch ein, dass er vergessen hat, persönlich zu wiehern. Es ist ein Greuel mit der Breuel: hat neulich ein Junior-Texter gereimt, ha ha ha ... Recht hat er, der Junge - Weibern sollte man so ne große Behörde nicht anvertrauen, vollends nicht, wenn sie Beamte sind.

[Sind sie da nicht etwas ungerecht?, Die Leistungen, die Frau Breuel in den wenigen Monaten ...]

Was wissen sie denn? ... Die West-Zeitungen bringen doch nur von den Pressestellen gequirrlte Scheiße. Die sollen die Ost-Manager rausschmeißen, und ein paar fähige Typen ranlassen. Mir fällt da auf Anhieb n ganzes Dutzend ein. Rausschmeißen und dann neu bewerben lassen. Und wenn sich der Betriebsrat querlegt, den Laden einfach schließen. Ich hoff nur, der Späth kriegt die in Jena richtig dran. Wenn einer das deichseln kann, dann der. Der hat schon immer auch gewusst, zu leben und leben zu lassen. Wenn man da drüben in der Treuhand mal einen im Lear-Jet mit heim nehmen will, kriegen die doch feuchte Hände, aus Angst vorm Dienstherrn - oder der Herrin, ha ha ha ...

[Herr Gernhard, was haben sie persönlich bisher in den neuen Ländern erreicht?]

Na, ich will mich ja nicht loben, aber im Bau- und Grundstücksgeschäft hab ich schon manches aufgerissen. Lässt sich gut an. Ich denke, das boomt in den nächsten Jahren. Hab auch n paar Geschäfte im Werkzeugbau angeleiert, für Freunde, ungenannte Investoren. Will ja nicht gleich jeder seinen Namen unter nem Pleitebetrieb finden.

[Im Klartext: wie viel Mios sind abgewickelt, was steht noch aus?]

Legen sie mich nicht auf die Mark fest, aber ich denke so an die 500 Mios sind inzwischen abgeschlossen. Summa summarum natürlich, mit allem, was so nebenher läuft, sie wissen schon, ha ha ha ... Und - harte Währung, nicht diese Leichtmetall-Dollars mit Hammer und Sichel - na, die werden ja jetzt verschwinden. Sie sollten sich welche anschaffen, für die Kleinen, als Spielgeld.

[Und alles bezahlt, nicht wie vor sechs Jahren, beim großen Gernhard-Crash?]

Ach lassen sie doch die ollen Kamellen. Da war ich grad nicht flüssig; der Donald Trump lebt auch auf Pump, und die Banken tun's ihm Danken. Heut bin ich echt gut poetisch drauf, nicht wahr, ha ha ha ...

[Nein im Ernst, wie macht man das mit so dünner Eigenkapitaldecke?]

Was denken sie denn, wies die anderen machen. Alle wollen leben, und nichts wird einem geschenkt. Im richtigen Moment das richtige Geschäft. Die Hypo, die Commerz und die Dresdner, und dann noch son paar private Banker, und natürlich die Deutsche Bank. Die verdienen alle mit, wenn der alte Jerry Gernhard seine Geschäfte macht - und die verdienen nicht schlecht. Ich halt's da ganz mit Oscar Wilde, der hat schon vor hundert Jahren gesagt: 'Nur wenn man seine Rechnungen nicht begleicht, kann man hoffen, im Gedächtnis der Geschäftswelt weiterzuleben.'

(Black out; Applaus; alle auf die Bühne; etc. etc. etc. ... und dann Prost!

* * *

FINE

 

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
Kontakt: mailto:siegfriedcarl@hotmail.com
letzte Änderung: 28.05.00

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