Die
utopische Wendung des Mythos der Welt-Vernichtung
Ausstellungseröffnung
der Skulptur
„Der
Sturz der apokalyptischen Reiter“
von
Wilfried Koch in Rietberg am 14. März 2001
Meine
sehr geehrten Damen und Herren, auch ich grüße Sie und den Künstler Wilfried
Koch herzlich bei diesem Vorstellungs-Akt der grandiosen Plastik „Der Sturz
der Apokalyptischen Reiter“. Erwarten Sie von mir als Literatur-,
Kulturhistoriker und Ästhetiker, der sich hauptberuflich im Bildungs- und
Kulturmanagement tummelt, nun keine kunsthistorischen Ergüsse zur Plastik im
Allgemeinen und der spezifischen Ausprägung im Schaffen Wilfried Kochs im
Besonderen. Nach dem Motto „Schuster bleib bei deinem Leisten“ werde ich im
Folgenden in der mir zugemessenen knappen Zeit einige kulturhistorische und
kulturkritische Assoziationen zum von mir so genannten Thema „Die utopische
Wendung des Mythos der Welt-Vernichtung“ entwickeln.
„Apokalypse
Now“ hieß der Kultfilm, den Francis Ford Coppola 1979 mit einer
Starbesetzung, u. a. Marlon Brando, Martin Scheen und Robert Duvall, drehte. Der
Titel des amerikanischen Originals wurde auch in den meisten Synchronisationen
beibehalten. Und dies war richtig so, denn der Titel ist Programm: Wer denkt
beim Wort Apokalypse nicht an den Weltuntergang, an die grausame Zerstörung
alles Kreatürlichen. Seit frühchristlicher Zeit wird die Apokalypse vor allem
mit Zerstörung, Vernichtung, Herrschaft des Anti-Christ und sonstigen Gräueln
nebst grandiosem Weltgerichtsszenario assoziiert. Die Religions- und die
Kunstgeschichte sind voll von Auslegungen und Bildern dieses die Menschen
nunmehr schon fast zwei Jahrtausende bewegenden Mythos vom gottgewollten
Untergang der Welt mit anschließender hoffnungsfroher Errichtung des neuen
Jerusalem als ewigem Friedensreich. Dieser letztgenannte positive utopische
Telos der Apokalypse wird jedoch zumeist zurückgedrängt und geht in den
Schreckensvisionen unter. Und diese Schreckensvisionen sind es, die besonders
befruchtend auf die künstlerische Gestaltung gewirkt hat; sie muss wohl
Schichten im Unterbewussten der Künstler berühren, die hier einen Kanal
symbolischer Entfaltung finden. Und doch ist es eigentlich unverständlich,
warum wir heute mit dem Wort Apokalypse stets kosmische, kriegerische oder
medizinische Katastrophen verbinden, die zum Weltuntergang führen. Denn
Apokalypse heißt nichts anderes als Offenbarung oder Enthüllung, und unsere
christliche Apokalypse ist eben die Enthüllung, die der Seher von Patmos, den
die Ostkirche Johannes „den Theologen“ nennt, von Christus geweissagt
bekommen haben will. Und diese Enthüllung trägt zwar die genannten tragischen
Züge, jedoch auch die erwähnte positive Utopie eines letztendlichen
Friedensreiches in sich. In der farbenprächtigen Bilder- und Symbolwelt mit
welcher die Untergangs-Phantasmagorien der Apokalypse ausgestaltet sind, ragt
eine Szenerie besonders heraus, die uns heute hier beschäftigen muss. Ich
zitiere im Folgenden das gesamte 6. Kapitel der „Offenbarung des Johannes“
nach der Luther-Übersetzung vor der Textrevision der 20er-Jahre, um die
Einbettung der vier apokalyptischen Reiter in den Zerstörungs- und
Vernichtungskontext der sechsfachen Siegelöffnung ansatzweise begreiflich zu
machen:
Öffnung
sechs verschiedener Siegel.
1.
Und ich sah, daß das Lamm der Siegel eins auftat. Und ich hörete der vier
Tiere eines sagen als mit einer Donnerstimme: Komm und siehe zu!
2.
Und ich sah, und siehe, ein weiß Pferd, und der daraufsaß, hatte einen Bogen;
und ihm ward gegeben eine Krone; und er zog aus zu überwinden, und daß er
siegete.
3.
Und da es das andere Siegel auftat, hörete ich das andere Tier sagen: Komm und
siehe zu!
4.
Und es ging heraus ein ander Pferd, das war rot; und dem, der daraufsaß, ward
gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde, und daß sie sich untereinander erwürgten;
und ihm ward ein groß Schwert gegeben.
5.
Und da es das dritte Siegel auftat, hörete ich das dritte Tier sagen: Komm und
siehe zu! Und ich sah, und siehe, ein schwarz Pferd, und der daraufsaß, hatte
eine Waage in seiner Hand.
6.
Und ich hörete eine Stimme unter den vier Tieren sagen: Ein Maß Weizen um
einen Groschen und drei Maß Gerste um einen Groschen; und dem Öle und Wein tu
kein Leid.
7.
Und da es das vierte Siegel auftat, hörete ich die Stimme des vierten Tieres
sagen: Komm und siehe zu!
8.
Und siehe, und ich sah ein fahl Pferd, und der daraufsaß, des Name hieß Tod,
und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das
vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch
die Tiere auf Erden.
9.
Und da es das fünfte Siegel auftat, sah ich unter dem Altar die Seelen derer,
die erwürget waren um des Wortes GOttes willen und um des Zeugnisses willen,
das sie hatten.
10.
Und sie schrieen mit großer Stimme und sprachen: HErr, du Heiliger und
Wahrhaftiger, wie lange richtest du und rächst nicht unser Blut an denen, die
auf der Erde wohnen?
11.
Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weiß Kleid; und ward zu ihnen
gesagt, daß sie ruhten noch eine kleine Zeit, bis daß vollends dazukämen ihre
Mitknechte und Brüder, die auch sollten noch getötet werden gleich wie sie.
12.
Und ich sah, daß es das sechste Siegel auftat; und siehe, da ward ein großes
Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward
wie Blut.
13.
Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine
Feigen abwirft, wenn er von großem Winde bewegt wird.
14.
Und der Himmel entwich wie ein eingewickelt Buch; und alle Berge und Inseln
wurden bewegt aus ihren Örtern.
15.
Und die Könige auf Erden und die Obersten und die Reichen und die Hauptleute
und die Gewaltigen und alle Knechte und alle Freien verbargen sich in den Klüften
und Felsen an den Bergen
16.
und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns und verbergt uns vor dem
Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes;
17.
denn es ist kommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?
Dieser
Text hat die Menschen in der brutalen Personifikation von Pest, Hunger, Krieg
und Tod in besonderem Maße aufgewühlt und die apokalyptischen Reiter im Plural
wie auch im Singular werden immer wieder synonym für Geißeln der Menschheit
genannt; seien es Hungersnöte, schreckliche Naturkatastrophen, Kriege oder
Seuchen (zuletzt wurde in einem großen Spiegel-Special auch Aids sowie die
durch die global Erwärmung hervorgerufenen Naturkatastrophen der jüngsten Zeit
mit der Metapher „apokalyptischer Reiter“ belegt). Ja selbst im Internet
finden wir einen abstruse Gedanken absondernden Adressaten, der sich mit
allerlei verquaster Weltuntergangsprosa in den diversesten Chat-Rooms tummelt
und sich „Der Apokalyptische Reiter“ nennt. Im Internet wird jüngst auch
ein höchst fragwürdiges online-Fantasie-Spiel mit dem nämlichen Titel
annonciert. Und selbst vor der Pop-Musik hat der Begriff nicht halt gemacht wenn
sich eine der übelsten Gruppen der Heavy-Metal-Szene sich als „Die
Apokalyptischen Reiter“ bezeichnet.
Wir
sehen, dass der Mythos vom Weltuntergang und den Apokalyptischen Reitern unsere
gesamte ach so aufgeklärte Welt bis hinein in die elektronischen Medien und die
Subkultur durchdringt. Gerade die Apokalyptischen Reiter haben jedoch auch immer
wieder Künstler herausgefordert, die Personifikationen von Seuche/Krankheit,
Hunger/Armut, Krieg/Vernichtung und letztgültigem Tod als Memento mori zu
gestalten. Aus den zahllosen Beispielen der bildenden Kunst seien hier drei
exemplarisch genannt: „Die vier apokalyptischen Reiter“ von Dürer aus den
Jahren1497/98, die „Apokalyptischen Reiter“ von Kandinsky aus dem Jahre 1911
und die aus mehreren Versionen bekannte Kaltnadelradierung von Salvador Dali aus
den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Und
diese apokalyptischen Reiter sind auch Thema der von Wilfried Koch geschaffenen
Plastik, die heute erstmals hier in Rietberg der einheimischen Bevölkerung präsentiert
wird. Den 1929 in Duisburg-Ruhrort geborenen Kunsthistoriker, Maler und
Plastiker Wilfried Koch, der nebenher auch ein begnadeter Flötist ist und
selbst Spuren in der Belletristik hinterlassen hat, den Rietbergern
vorzustellen, hieße wohl, Eulen nach Athen zu tragen. Denn seit Jahrzehnten
wohnt er in Rietberg-Varensell und seine Kunstwerke prägen an markanter Stelle
die Ortsteile, so sein Flötenspieler in Neuenkirchen und sein heiliger Benedikt
in Varensell, ganz zu schweigen von der fantastischen Narrenplastik in der
Sparkassen-Hauptverwaltung in Rietberg. So möchte ich auch im Folgenden meinen
Blick ganz auf die hier vorgestellte Skulptur fokussieren und anhand einiger Überlegungen
den revolutionären, ja utopischen Umgang Wilfried Kochs mit dem Mythos von den
Apokalyptischen Reitern erläutern. Er mag exemplarisch stehen für sein
plastisches Schaffen. Doch noch ein knappes Wort zuvor. Mehr als tausend
Malereien, überwiegend Porträts, hat Wilfried Koch geschaffen, bevor er erst
Anfang der 80er Jahre - als knapp 50-jähriger - begonnen hat, sich der Plastik
und hier vor allem der menschlichen Plastik zu widmen. Es ist der Mensch als
Mikrokosmos in seiner schicksalhaften Geworfenheit in den Makrokosmos, der ihn
interessiert. Es ist die Vieldimensionalität des Menschen, der er sich in
seinen Skulpturen annähert. Es war eben seinerzeit der Wunsch nach Übersteigen
der Eindimensionalität des Porträts, der Wilfried Koch zum Plastiker werden
ließ; der Wunsch, hinter die Menschen, ja in die Menschen hinein zu schauen und
aus einem Umschreiten des Menschen, ja aus dem Menschen heraus, den Menschen
umfassend, im Ganzen wahrzunehmen in seiner je unverwechselbaren Vielfalt aber
auch Individualität. Gott sei Dank hat er diesen Schritt damals gewagt, denn
welch fantastisches Werk bliebe uns heute sonst vorenthalten.
Die
hier aufgestellte Plastik „Sturz der Apokalyptischen Reiter“ ist erst vor
drei Jahren entstanden und war schon an diversen Orten, u. a. in einer
wunderbaren Schau seiner Plastiken in Hamburg um vor und in St. Michael zu
sehen. Es ist seine von der Ausdehnung her bisher größte Plastik; zudem die
Plastik, die meines Erachtens die stärkste Dynamik, den höchsten erzählerischen
Grad aufweist. Ich schlage Ihnen, meine Damen und Herren, vor, sich nach meiner
Rede oder in den nächsten Tagen in aller Ruhe nach einem Fernblick langsam der
Skulptur zu nähern, indem Sie spiralförmig um sie herumgehen, um zu guter
Letzt ganz nah heranzutreten und in die Figuren hinein zu schauen, zu hören, um
der Erzählung Wilfried Kochs zu lauschen. Sie erzählt uns in einer stringenten
Konzentration auf das Wesentliche von der Umkehrung der negativen
apokalyptischen Vernichtungsordnung hin zur Utopie des Friedens. Sie raunt in
dem schmerzlich in der Hinterhand einbrechenden und sich noch einmal wiehernd
aufbäumenden, metallisch-glänzenden Pferd, das pars pro toto für das weiße,
rote, schwarze und fahle Pferd steht, von der Machtlosigkeit von Pest, Hunger,
Krieg und Tod. Sie konzentriert unsere Gedanken, indem sie die vier Reiter in
einen vierarmigen Körper schrumpfen lässt, dessen Hände nur noch zum Stützen
des Falles, zum krampfhaften Halten von Bogen und Lanze (statt Schwert), ja gar
zur Stillung des Hungers dienen, nicht mehr zum vernichtenden Angriff. Ja die
Erzählung kulminiert in den an tiefste Stelle der Skulptur, in Gesäßhöhe des
geschundenen Pferdes gestürzten Köpfen der Apokalyptischen Reiter, wobei der
Hunger sich selbst zerfleischt, eine Ratte Besitz vom sich übergebenden
Pestkopf ergriffen hat, der Krieg sich männlich schön hinter seinem Visier
verschanzt, und einzig der gekrönte Tod das zerschundene Gesicht selbstbewusst
erhebt, wissend, ihm kann auch dieser Sturz die Macht nicht nehmen.
Dies
ist - exemplarisch für den Umgang Wilfried Kochs mit mythischen Gestalten und
Geschehnissen - das Grandiose und Faszinierende an der Skulptur „Der Sturz der
Apokalyptischen Reiter“, dass hier erstmals in der Kunstgeschichte die Möglichkeit
aufgezeigt wird, dem apokalyptischen Schicksal zu entgehen. Denn der Mensch -
und er alleine - hat die Möglichkeit, Pest, Hunger und Krieg auszumerzen, zu überwinden,
und dann nur noch dem natürlichen Tod ausgeliefert zu sein, dem sich Leben nie
entziehen kann.
Die
Utopie vom Frieden, in der Apokalypse erst nach Vernichtung und Untergang als
Letzt-Zustand des Weltrestes gestaltet, wird bei Wilfried Koch vorgezogen. Die
Überwindung der durch die Apokalyptischen Reiter symbolisierten Menschheitsgeißel
durch den vom Menschen vollzogenen und nur durch ihn zu vollziehenden Sturz der
Apokalyptischen Reiter ist hier in monumentaler Überhöhung und explosiver, künstlerischer
Verdichtung visionär denkmöglich gemacht.
Soweit
meine assoziativen Gedankengänge, die Sie, meine Damen und Herren zum
Weiterdenken, zum Weiterentdecken, zum Weiterhorchen in der Plastik anregen mögen.
Lassen sie mich zu guter letzt noch einen kleinen Gedankenhaken in die
klassische Literatur vollziehen:
Meines
Wissens ist nur einmal in klassischer Zeit die Überwindung negativ-höllischer,
ja apokalyptischer Bilder literarisch angedeutet worden. Der junge Goethe hat
sich diese bösen Gestalten aus den Gedanken gewischt, indem er sich an ihre
Stelle ein erotisches Abenteuer mit Bettine imaginiert. Ich möchte ihnen dies,
das 41. der zum Teil tief-erotischen Epigramme, die Goethe 1770 in Venedig
schrieb, hier zum Abschluss mit auf den Weg geben:
So
verwirret mit dumpf-willkürlich verwebten Gestalten,
Höllisch und trübe gesinnt, Breughel den schwankenden Blick;
So
zerrüttet auch Dürer mit apokalyptischen Bildern,
Menschen und Grillen zugleich, unser gesundes Gehirn;
So
erreget ein Dichter, von Sphinxen, Sirenen, Zentauren
Singend, mit Macht Neugier in dem verwunderten Ohr;
So
beweget ein Traum den Sorglichen, wenn er zu greifen,
Vorwärts glaubet zu gehn, alles veränderlich schwebt:
So
verwirrt uns Bettine, die holden Glieder verwechselnd;
Doch erfreut sie uns gleich, wenn sie die Sohlen betritt.
Ich
danke Wilfried Koch für die wunderbare Plastik, der Stadt Rietberg für die
Einladung, hier zu Sprechen, und ich danke Ihnen, meine Damen und Herren fürs
geduldige Zuhören.