Prokofiew
SERGEJ PROKOFIEW
"PETER UND DER WOLF"
Ganz anders als beim verstockten und ungezogenen Kind in Ravels
"L’Enfant et les sortilèges" sieht es bei "Peter und der
Wolf" aus. Peter ist ein unbekümmerter, fröhlicher Junge, fast ein wenig
altklug - und im richtigen Moment mutig und stark. Doch der Reihe: Zunächst
will ich euch eine kleine Geschichte aus dem Leben des Komponisten von
"Peter und der Wolf", Serge Prokofieff, erzählen, die bezeichnend
für die Phantasie der kleinen Genies ist. Er komponierte schon, bevor er lesen
und schreiben lernte; und seine Eltern förderten sein Talent, nahmen ihn in
Konzerte und Opern mit und ließen ihn früh Instrumente lernen.
Als Serge Prokofieff noch ein paar Jahre jünger war als unser
Peter, passierte die Geschichte, die ich Euch erzählen will, weil sie uns viel
über den Komponisten verrät. Der fünfjährige Serge spielte seiner Familie
seine erste Komposition auf dem Klavier vor, einen "Galopp". Doch
Serjosha, wie ihn seine Eltern liebevoll nannten, hatte bei dem kleinen Stück,
das in F-Dur stand, das Vorzeichen b zu schreiben vergessen. Naja, vergessen
eigentlich nicht. Denn der Kleine hatte in seiner Abneigung gegen die
"schwarzen" Tasten auf dem Klavier einfach kurzerhand das b zum h
erhöht, was der Tonleiter einen falschen vierten Ton bescherte. Seine Eltern
hörten dies natürlich, schauten ein wenig verdutzt, lachten dann und lobten
ihren Serjosha für die so schön "orientalisch" klingende Melodie.
Der Bub taufte einfach sein Musikstück in "Indischer Galopp" um –
und die Eltern lachten herzlich mit ihm wegen des gelungenen musikalischen
Streichs.
So, wie Serge Prokofieff als Fünfjähriger durch den kleinen
Trick der Erhöhung des b zum h in der F-Dur-Tonleiter eine
"orientalisch" anmutende Melodie erzeugte, lernte er nach und nach mit
allen Instrumenten des Orchesters, ihren unterschiedlichen Klangfarben und
Einsatzmöglichkeiten, mit den Elementen des Rhythmus und der Harmonien seine
Gefühle und Stimmungen auszudrücken, plastische Bilder zu malen, ja ganze
Geschichten zu erzählen. Das musikalische Märchen "Peter und der
Wolf" ist das in aller Welt wohl bekannteste "Gemälde" des
russischen Komponisten; der Text ist in ungezählte Sprachen übersetzt und
begeistert mit der unvergesslichen Musik rund um den Erdball Kinder wie
Erwachsene.
Elf Jahre nach der Uraufführung von Ravels "L’Enfant et
les sortilèges" bekommt Serge Prokofieff im kommunistischen Russland von
einem Moskauer Kindertheater den Auftrag zu einem musikalischen Märchen. Peter,
unser Held, soll einen vorbildlichen kleinen Komsomolzen, einen jungen Pionier
des Kommunistischen Jugendbundes, darstellen, der Tapferkeit mit Pfiffigkeit
verbindet, zugleich eine gute Mischung aus Gehorsam und Auflehnung gegenüber
den Erwachsenen an den Tag legt, und der bei aller Tapferkeit und allem Mut den
Sieg bescheiden teilen kann, in unserem Fall mit dem schwächsten Teil der
kleinen Gesellschaft, dem Vogel.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Der kleine Peter bewahrt in
der strahlenden Natur, einen im Streit mit einer Ente die Umwelt vergessenden
Vogel davor, von einer Katze gefangen zu werden. Doch Großvater kommt und holt
Peter in das Haus zurück, den was wäre, wenn ein großer grauer Wolf käme,
während Peter allein im Freien ist. Und eben dieser Wolf kommt, fängt die
dumme Ente, die in ihrer Angst aus dem sicheren Wasser gewatschelt ist, und
umkreist nun den Baum, auf den sich die Katze geflüchtet hat. Peter klettert
mit einem Seil auf einen in seinen umzäunten Garten hineinragenden Ast des
Baumes und fängt listig mit einer Schlinge den Wolf, der sich im Kreis dreht,
weil er den ihn umkreisenden Vogel fangen möchte, und der dadurch die Schlinge
nur fester und fester um sich schlingt. Den auf den Spuren des Wolfs ankommenden
Jägern, die mit ihren Flinten auf den Wolf schießen, ruft Peter entgegen, dass
sie das Schießen einstellen mögen, denn der Vogel und er hätten den Wolf
lebend gefangen und die Jäger mögen ihnen helfen, den Wolf im Zoo abzuliefern.
Im Triumphzug geht es zum Zoo – und wer genau hinhört, kann im Bauch des
Wolfs die Ente quaken hören, der Wolf hatte sie in seiner Gier lebendig
herunter geschlungen. Soweit die Story.
Eigentlich bräuchten wir bei diesem Kunststück, wenn es
szenisch dargeboten wird, den Text des Erzählers gar nicht. Denn Prokofieff
versteht es meisterlich, die einzelnen Charaktere und Situationen musikalisch
bildhaft werden zu lassen. Und doch gibt uns der Text ein Gerüst, vollends,
wenn der Erzähler in die Szene integriert erscheint, wie dies in unserem
Ballett gemacht wird.
Prokofieff nimmt das ganze Orchester und verteilt die
Instrumente oder Instrumentengruppen geschickt auf sein Personal und deren
Aktionen. Die Flöte gibt das fröhliche Gezwitscher des Vogels wider; die Oboe
verleiht der nasal quäkenden und tapsig watschelnden Ente ihre Stimme; in
tiefen Registern der Klarinette schleicht sich die Katze auf weichen Pfoten an,
doch wehe wenn sie ihre Krallen zeigt; und dem Großvater gibt das brummelnde
Fagott, das ja so aussieht wie Großvaters lange Tabakpfeife, seine Würde.
Diesen Holzbläsern, den Charakteren aus Peters Umfeld zugeordnet, steht die
feindliche Umwelt gegenüber: Der durch drei wehrhaft-angriffslustige Hörner
charakterisierte Wolf und die Kesselpauken und Trommeln der schießenden Jäger.
Der unbefangene Peter, der stets daher schlendert, als würde er ein fröhliches
Lied pfeifen, bekommt eine zumeist von allen Streichern gemeinsam gespielte
flotte Melodie zugewiesen. Und auch die Situationen werden musikalisch
ausgedeutet, ja ausgemalt. So beispielsweise die in die Höhe kraxelnde Melodie,
die der vor dem Wolf auf den Baumgipfel flüchtenden Katze den nötigen Schub
verleiht; oder die langsam herabkringelnden Töne des von Peter zum Wolf
herabgelassenen Seils, in dem gefangen der Wolf wütende Luftsprünge ausführt
und ins Leere schnappt; oder gar der Triumphmarsch am Schluss des
"sinfonischen Märchens für Kinder". Und wenn ihr im Triumphmarsch
genau hinhört, dann werdet ihr leise quakend die Ente ihre Oboe im Bauch des
Wolfes blasen hören.
... aber vielleicht war die Geschichte ja eigentlich völlig
anders; vielleicht gar so, wie es Siegfried Carl in dem folgenden kleinen
Gedicht in Frage stellt:
PETERS WOLF
Ein Wolf, ein kleiner, stand in einem Garten
- tat sehnsuchtsvoll aufs Mittagessen warten -,
und Mama Wolf stellt unserm lieben Knilch
vor die Tür ein Schälchen fetter Milch.
Die Ente, frech und durstig obendrein,
denkt bei sich selbst: "Wie fein - wie fein!",
verscheucht den kleinen Wolf mit scharfen Schnabelhieben,
und in der Schale ist kein Restchen Milch geblieben.
Der Komponist erzählt, wies weiterging,
als Peter dann den Papa unsres Wölfchens fing.
Doch dieser wollte nur das Wölfchen rächen - ist das schlecht?
Man sieht: Die Welt ist häufig ungerecht!
EIN KNAPPES WORT ZUM BALLETT
Zumeist wird "Peter und der Wolf" in den Konzertsälen
als reines Orchesterkonzert mit würdevollem Erzähler dargeboten. Die
Ballettfassung auf unserer DVD geht wieder zurück zum Ursprung, zur szenischen
Darstellung eines Kindertheaters. Kindgerecht und auch für die Erwachsenen als
Augen- und Ohrenschmaus hat Matthew Hart die Choreografie angelegt, in der
Ausstattung feinfühlig unterstützt durch Ian Spurlings Raum- und
Kostümgestaltung. Sehr durchsichtig in einer dem Erzählstil entsprechenden
Form lässt die ganz auf die tänzerischen Bewegungen in phantasievollen
Kostümen reduzierte, auf ein aufwändiges Bühnenbild verzichtende Darstellung
dem kleinen und großen Zuschauer genug Raum für eigene Phantasiebilder. Das
Bühnenbild wird letzthin durch eine Tanzszenerie ersetzt, indem das jugendliche
Corps de Ballett den See, die Mauer, den Wald usw. tänzerisch darstellt.
Väterlich hält Anthony Dowell die ganze Szenerie in seiner Doppelrolle als
Erzähler und Großvater zusammen
Das ursprünglich für die Jahresaufführung der Royal Ballett
School – an der schon Jirí Kylián Schüler war – choreografierte Werk, das
geschickt jugendliche Ballettschüler mit arrivierten Tänzern mischt, hat den
Sprung ins Weihnachtsprogramm des Covent Garden erreicht.
Und es wurde von der Kritik mit viel gerechtem Lob bedacht.