Nachbetrachtung

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Der Teufel von Herrenalb

Nachbetrachtung

von Jakob Ossner

 

So ein Theater!

Als mein Großvater am Ende seines arbeitsreichen Lebens zuweilen die Weltläufte kommentierte, sagte er mit einem Unterton der Amüsiertheit und Verwunderung: "So ein Theater". Er fühlte sich nicht mehr als Agierender auf der Weltbühne, sondern als einer, der von außerhalb einen Blick auf sie werfen kann, und was er dort sah, war das Gewusel, das man das Leben nennt, - ein Theater eben.

Das Leben wird zum Theater, wenn man nicht mehr in ihm steht. Der Zuschauer ist der Klügere, aber auch der Stumme, zum Schauen verurteilt, nicht zur Aktion. Das Leben zieht an ihm vorbei, wenn er dabeisein will, muss er schon auf die Bühne springen und seine Rolle spielen - so ist das Leben. Unsichtbar ist beiden der Regisseur. Er lässt die einen sich abzappeln, während er die anderen zum Gaffen hingestellt hat und der Regisseur hat wiederum einen Autor und dieser einen Auftraggeber u.s.w.

Das Theater müsse den Menschen einen Zerrspiegel vorhalten, damit sie ihre Sünden erkennen und Buße tun, sagt uns der Autor Siegfried Carl durch den Mund des jungen Mönchs Aurelius. Wenn das Leben ein Theater ist und das Theater ein Zerrspiegel unseres Lebens, dann wird es schwierig, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Herrenalb 1499. War es so? Hätte es so sein können?

Es war nicht so und es hätte auch so nicht sein können. 1499 konnte noch kein Domenikanermönch aus der Lutherbibel zitieren, aber die unseren können es. Was für eine Ironie, dass in den Worten des Abtrünnigen die Abtrünnigen zum rechten Glauben gebracht werden sollen! So erscheinen uns die, die im Unrecht sind, noch mehr darin verstrickt und ihre Worte weisen darauf hin, dass diese Art von Rechtgläubigkeit am rechten Glauben verzweifeln lässt.

Es war nicht so, aber es hätte so sein können. Es hätten die Eiferer in Gestalt der Domenikaner auftreten und die Waffe der Inquisition gegen alles einsetzen können, was nicht nach ihrem Geschmack war. In ihrem Glauben fest interpretierten sie nach ihrem Sinn die Welt nicht weniger stimmig als ihre aufgeklärten Gegner. Diese aber, weniger entschlossen als sie, skrupulöser im Denken und im Handeln, vorgeführt im aufgeklärten, aber schwachen Abt Bartholomäus, können nur zuschauen, was sich vor ihren Augen rasend entwickelt und in die Katastrophe treibt. Es war nicht so, aber so hätte es sein können - so ist es immer noch. Diese Herren erscheinen uns nicht verzerrt, aber ihre perversen Taten sind es. Nur, um das sagen zu können, müssen wir außerhalb stehen, und unser "So ein Theater!" könnte am verhängnisvollen Lauf nichts ändern.

Der Student Maximilian hätte von Paris nach Heidelberg ziehen, Herrenalb hätte dabei auf seinem Weg liegen und er hätte die zotigen Verse über das Summum bonum der Frauen zum besten geben können. Man darf annehmen, dass eine solch "obszöne Männerphantasie", wie sie Rüdiger Krüger an einer anderen Stelle nennt, bei den jungen Burschen und in den Wirtsstuben schnell ihre Verbreitung gefunden hat.

Es war so, und es war doch nicht so: Johannes Zürn schließlich hat tatsächlich gelebt und er war wirklich ein bedeutender Scriptor und hat dem Kloster großen Ruhm gebracht. Unser Autor Siegfried Carl macht ihn dagegen zu einem kleinen, engherzigen Menschen, den der Ehrgeiz und ein starres, der Vergangenheit verbundenes Denken verblendet; Großzügigkeit des Herzens dagegen gibt er als Gabe seiner Erfindung, dem jungen Mönch Aurelius, bei, von dem wir nichts wissen, den wir aber mehr zu kennen meinen als den historisch Verbürgten Johannes. Er mag eine Theaterfigur sein, aber er spricht unsere Sprache, und dort, wo wir nicht so sind wie er, da wären wir es zuweilen gern.

Es hätte so sein können, aber wenn es nicht so war, so passt es gut ins Konzept.

Erkennen wir im Zerrspiegel Theater unsere Sünden, um Buße zu tun? Wir tun es und begehen neue Sünden, um erneut Buße leisten zu müssen und so fort. Neue Taten und Untaten folgen auf die alten, neues Denken löst das alte ab - so ist es immer und so ist es immer wieder. Vor 500 Jahren und heute. Alles wiederholt sich, auch wenn man niemals zweimal in den selben Fluss steigen kann. - So ein Theater!

Alles wiederholt sich, verdoppelt sich; wie bei einer russischen Puppe, bei der geöffnet die nächste Puppe sich zeigt, verdoppelt sich das Theater als Theater im Theater. Anlässlich des 850. Jahres ihrer Gründung spielen die Herrenalber ein Spiel, angesiedelt im Jahr 1499, in dem die Herrenalber von 1999 die Herrenalber von 1499 spielen, die ihr 350. Jahr begehen. Nicht genug damit: Sie spielen nicht nur dieses, sondern in diesem Spiel, in dem sie sich selbst spielen, spielen sie ein neues Spiel: Wer eben noch als Maximilian Zoten riss, ist jetzt der Widersacher, der Teufel; der Mönch wird der heilige Michael, die Dorfschönen werden die Heiligen aus der Bibel, wer eben noch Schauspieler war, wird jetzt Zuschauer, dem die Zuschauer zuschauen. Der Spiegel spiegelt sich im Spiegel, der sich im Spiegel spiegelt.

Da brauchen wir einen, der uns führt, - den Hanswurst. In einem Stück des Jahres 1499 hat er nichts zu suchen, die Theatergeschichte kennt ihn erst einige Zeit später. Aber bei Herrenalbern von 1999, die sich selbst im Jahre 1499 spielen und Luther zitierenden Domenikanern hat sich für uns die Zeit eh schon verschoben und vermischt. So eröffnet der Arleccino, der Pickelhering und Hanswurst den Reigen, er hilft den Schauspielern weiter, wenn alles ins Stocken zu geraten scheint. Wenn es zu arg getrieben wird, dann schreitet er für uns ein und er versucht uns aufzuklären, was Spiel und was Ernst sei. Wenn wir dem Hanswursten nicht trauen, dann werden wir schnell die Orientierung verlieren. Dann ist Spiel Ernst und Ernst Spiel, die gespielte Rolle die Wirklichkeit und diese ein Spiel, der Bauer Hinz nicht die Figur im Spiel, sondern unser Nachbar und über kurz oder lang werden wir dann schon entdecken, dass er vielleicht doch eher der Bauer Hinz als der Nachbar ist. Nicht einmal der Autor heißt ja wirklich so, wie im Textheft und Programm ausgedruckt. Wem sollen wir noch trauen?

Manchmal wollen wir es genau wissen, aber von welchem Standpunkt sollen wir unsere Fragen stellen? Fragen wir als Spieler oder als Gespielte, vom Spiel im Spiel aus oder als Zuschauer; als Zuschauer des Spiels im Spiel oder als Zuschauer von ganz weit draußen? Irgendwann wird uns die dumpfe Ahnung beschleichen, dass wir uns zwar als Zuschauer denken mögen, aber doch Mitspieler sind und dass es irgendwo einen Standpunkt geben mag, von dem aus man über uns sagt: "So ein Theater!" Im Spiegel sehen wir uns dann plötzlich selbst. Wir möchten ausrufen, dass das alles verzerrt sei und sehnen uns nach der Normalität. Aber in der Zwischenzeit haben wir gelernt zu zweifeln, dass wir genau sagen könnten, was das Normale sei.

Unser Autor meint es am Schluss gut mit uns. Die alte Zeit hat er uns mit Ihrem Schrecken vorgeführt, die neue dämmert herauf. Seine Signale sind die der Hoffnung. Wir aber erinnern uns, dass die Schrecken der da kommenden Zeit schrecklicher sein werden als die der alten.

Und trotzdem: immer wieder brauchen wir diese Hoffnung und wir wissen: Es könnte auch besser sein und werden. Es liegt nur an uns; auch daran, ob wir uns als Akteure oder Zuschauer verstehen, als Autor oder Regisseur oder ganz außerhalb als Zuschauer des Theaters, das das Leben ist.

Bad Herrenalb 1999 - das Spiel geht weiter.

Jakob Ossner

 

 

© Dr. Rüdiger Krüger, Rheda-Wiedenbrück 2006
Kontakt: mailto:siegfriedcarl@hotmail.com
letzte Änderung: 16.04.00

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